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Gesellschaft & Religion Das Boot war nicht voll! Und ist es bis heute nicht?

Flüchtlinge privat unterbringen, diese Idee ist nicht neu. Bereits in den 70er-Jahren holte die «Freiplatzaktion» Flüchtlinge in die Schweiz. Regisseur Daniel Wyss erzählt die Geschichte dieses «zivilen Ungehorsams» in einem Dokumentarfilm. Und redet im Interview über die Parallelen zu heute.

Warum kamen in den 70er-Jahren chilenischen Flüchtlinge in die Schweiz?

Daniel Wyss: 1973 gab es einen Staatsstreich in Chile. General Pinochet putschte gegen die linke Regierung von Salvador Allende. Der Staatsstreich produzierte Hunderttausende von chilenischen Flüchtlingen, die auch in Europa Asyl suchten.

Daniel Wyss

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Der 36-jährige Filmautor Daniel Wyss wurde in Ecuador geboren. Sein Vater ist Schweizer, seine Mutter Ecuadorianerin. Er lebt seit 1991 in Lausanne und arbeitet als Kameramann und Regisseur. Er hat bisher Kurzfilme und zwei längere Dokumentarfilme realisiert. «Das Boot ist nicht voll» lief dieses Jahr erfolgreich an den Solothurner Filmtagen.

In der Schweiz waren die Reaktionen gespalten. Die Bürgerlichen hoben hervor, dass es Kommunisten sind. In kirchlichen und linken Kreisen wollte man diesen Flüchtlingen helfen, sie vor Verfolgung, Folter und Tod retten. Im Herbst 1973 entstand in Basel eine Bewegung, die Freiplatzaktion. Sie forderte vom Bundesrat, Chilenen aufzunehmen. Der damalige Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartement Bundesrat Furgler erlaubte 200 chilenischen Flüchtlingen die Einreise. Daraufhin schrieben die Leute der Freiplatzaktion in einem Rundbrief an alle Kirchgemeinden. Sie schlugen vor, dass jede Gemeinde für fünf chilenische Flüchtlinge einen Platz zur Verfügung stellen könnte. Privatpersonen waren aufgerufen, für zwei bis drei Monate chilenische Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen.

In «Das Boot ist nicht voll» erzählen engagierte Akteure von damals: Pfarrer, Aktivisten von Longo Mai, bekannte Figuren wie Jacques Pilet und Paolo Bernasconi. Und natürlich die Betroffenen, die chilenischen Flüchtlinge. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Ich habe den brasilianischen Vater einer Freundin kennengelernt. Er war aus Brasilien nach Chile geflohen. Nach dem Putsch wurde er mit Tausend Anderen im berüchtigten Nationalstadion von Santiago de Chile festgehalten. Er hat unglaubliche Dinge erlebt. Dann bin ich über ein Buch auf die Freiplatzaktion gestossen. Ich fand das eine tolle Geschichte, denn die Fragen, die sie aufwirft, sind heute noch aktuell: Kann man als Privatperson etwas tun für Flüchtlinge?

Was sind für Sie die wichtigsten Bezüge zur aktuellen Flüchtlingsthematik?

Zeitdokument: Ausschnitt Plakat, das zur "Nationale Chile Demontration, Bern" aufruft.
Legende: Aufruf zur Demonstration in Bern. Climage

Heute sind Flüchtlingen an Orten untergebracht, wo kein Kontakt zur Schweizer Bevölkerung möglich ist. Privatpersonen haben wenig Gelegenheit, diese Leute kennen zu lernen. Offenbar haben sich die Leute der Freiplatzaktion schon vor 40 Jahren Gedanken darüber gemacht.

Damals herrschte der kalte Krieg. Man hatte Angst vor den Kommunisten. Einen politischen Flüchtling aus Chile bei sich zu Hause aufzunehmen, galt als riskant, man wollte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Ich sehe gewisse Parallelen zu den syrischen Flüchtlingen von heute. Der Bundesrat sagt, die Schweiz sei bereit, 500 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Das tönt für mich ähnlich wie das damalige Verdikt von Bundesrat Furgler, 200 Chilenen aufzunehmen. Warum haben wir Angst vor syrischen Flüchtlingen? Weil sie Muslime sind?

Wie denken die Leute, die chilenische Flüchtlinge aufnahmen, heute darüber?

Alle sagten aus, die Begegnung mit einem Fremden im eigenen Haus sei eine besondere menschliche Erfahrung gewesen. Aber es gab auch Schwierigkeiten: die sprachliche Verständigung, die kulturellen Unterschiede, die politischen Meinungsverschiedenheiten.

Heute hat sich vieles verändert, aber einige Fragen sind noch immer die gleichen: Sind sie wirklich Flüchtlinge? Brauchen sie unsere Hilfe? Diese Fragen delegieren wir an staatliche Stellen, weil wir uns überfordert fühlen.

Sind die chilenischen Flüchtlinge, die Sie für den Film getroffen haben, heute integriert?

Jein. Von den 15 chilenische Flüchtlingen, die wir getroffen haben, sind die meisten recht gut integriert, aber das betrifft vor allem das Tessin und die Romandie. In einer lateinischen Umgebung ist es für spanischsprechende Flüchtlinge einfacher, sich zu integrieren. Es gab aber Chilenen, die Integrationsschwierigkeiten hatten und haben. Einige von ihnen kamen schwer traumatisiert in die Schweiz, hatten Folter und Verfolgung erlebt. Weil sie von offizieller Seite nicht willkommen waren, bekamen sie keine psychologische Unterstützung. Viele konnten kaum über ihre Erlebnisse sprechen.

War es schwierig, an das Archivmaterial heranzukommen?

Die Dokumente über den Streit zwischen Bundesrat Furgler und der Freiplatzaktion wurde erst 2005 öffentlich freigegeben. Davor kannte man das Ausmass der Auseinandersetzung nicht. Der Kampf wurde mit harten Bandagen geführt und dauerte zwei Jahre. Im Film erzählt der Aktivist Hannes Reiser, wie er mit Pfarrer Cornelius Koch, dem Gründer der Freiplatzaktion, im Büro von Bundesrat Furgler sass. Koch konnte sehr hart sein, er hat Furgler als seinen Angestellten bezeichnet, der mit seinem Steuergeld bezahlt sei. Als er Furgler aufforderte, mehr chilenische Flüchtlinge aufzunehmen, fragte dieser zurück: «Sind Sie Bundesrat oder bin ich es?» Ich fand diese Aussage sogar in den offiziellen Akten. Durch die Einsichten hinter die Kulissen dieser Geschichte bekommt der Film etwas von einem politischen Thriller.

Was glauben Sie, hat die Freiplatzaktion langfristig ausgelöst?

1974 gab es ja noch kein Asylgesetz in der Schweiz. Kurt Furgler hat dann später bei der Ausarbeitung des ersten Asylgesetzes eine liberale Ausgestaltung unterstützt. Viele Flüchtlingsorganisationen attestierten diesem ersten Asylgesetz Menschlichkeit. Ich glaube, dass die Geschichte mit den chilenischen Flüchtlingen einen entscheidenden Einfluss auf das Asylgesetz hatte, weil man verhindern wollte, dass es wieder zu einer derartigen Aktion aus der Bevölkerung kommt.

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