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Der 1. Weltkrieg Clara Immerwahr – Freitod für eine menschliche Wissenschaft

Am 2. Mai 1915 erschiesst sich die Chemikerin Clara Immerwahr in ihrem Garten. Sie setzt damit ein Zeichen des Protests gegen ihren Mann, Chemiker Fritz Haber. Dieser entwickelte das Giftgas Sarin mit, das im 1. Weltkrieg erstmals zum Einsatz kam. Der Idealismus seiner Frau war für ihn weltfremd.

Die brüchigen, im Krieg an den Rändern verkohlten Universitätsakten in Wroclaw/Breslau bewahren alle Details von Clara Immerwahrs mutigem Kampf auf. Von der Gasthörerin im Lehrerinnenseminar zur eifrigen Studentin der Experimentalphysik, die bald als Studienziel «Promotion» in den Fragebogen der Universität eintrug, was damals noch belächelt wurde.

Clara Immerwahr war die erste Frau, die 1900 in Breslau/Preussen promovierte: in physikalischer Chemie, dem Studium der genauen Gewichtsverhältnisse, nach denen Stoffe sich miteinander chemisch umzusetzen vermögen. Damals nahm die grosstechnische Herstellung synthetischer Produkte einen ungeheuren Aufschwung.

Hochzeit zwischen Chemikern

Clara Immerwahr im Porträt.
Legende: Clara Immerwahrs Plädoyer für eine humane Wissenschaft war für ihren Mann gar deutschlandfeinlich. Wikimedia/ Unbekannt

Clara Immerwahr heiratete 1901 den heute berühmten Chemiker Fritz Haber, ihre Tanzstundenliebe. Er war damals ein kleiner Professor an der Technischen Universität Karlsruhe in räumlicher Nähe zur Badischen Anilin- und Sodafabrik, der BASF. Wissenschaftler und Techniker wurden damals zu Unternehmern. Professor Haber stellte gewerblich verwertbare Resultate seiner Arbeiten gegen eine Gewinnbeteiligung der Industrie zur Verfügung.

Fritz Haber leistete mit der nobelpreisgekrönten Erfindung der Ammoniaksynthese in Karlsruhe einen wirkungsvollen Beitrag zur praktischen Anwendung der Chemie. Seine wissenschaftlichen Arbeiten bergen in hohem Grad die vieldiskutierte Ambivalenz naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse: eine erhebliche Ausweitung der Munitionsproduktion oder Brot für die Welt?

Chemische Waffen – «eine Perversion der Wissenschaft»

1912 wurde Fritz Haber Direktor eines Kaiser-Wilhelm-Instituts zur Förderung der Wissenschaften in Berlin und bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs Abteilungsleiter für Chemie im Kriegsministerium – wo er mit einem für Naturwissenschaftler einmaligen Engagement chemische Waffen als erste Massenvernichtungsmittel konzipierte, produzierte und selbst an der Front einsetzte. In Zusammenarbeit mit der BASF und anderen Grossfirmen der chemischen Industrie.

Clara Haber empfand das Erfinden und bedingungslose Ausliefern chemischer Kampfstoffe an das Militär und an die Industrie als «eine Perversion der Wissenschaft, jene Disziplin korrumpierend, die dem Leben neue Einsichten vermitteln sollte». Fritz Haber bezeichnete den Idealismus seiner Frau als realitätsfremd. Er warf ihr vor, ihm und Deutschland in einer Zeit grösster Not und Hilflosigkeit durch ihre Kritik am Gaskrieg in den Rücken zu fallen.

Idealistisch – oder psychisch krank

Fritz Haber in seinem Labor.
Legende: Fritz Haber im Labor: Entdecken für oder gegen die Menschheit? Deutsches Bundesarchiv

In den Erinnerungsberichten an Fritz Haber, die der Haberschüler Johannes Jänicke weltweit für eine Haber-Biografie gesammelt hat, wird Clara Immerwahr wiederholt als psychisch krank hingestellt – um verantwortungsvolles Handeln auszuschliessen und ihren Freitod als irrationalen Reflex zu erklären. Generell muss die offizielle Überlieferung hinterfragt werden.

1956 korrespondierte Jaenicke mit Ernst Fischer von den Farbwerken Höchst: «Es erscheint mir als eine selbstverständliche Pflicht, von dem Beitrag, den Haber zum Gaskampf geleistet hat, nur so viel zu erwähnen, dass nicht der Verdacht fälschender Beschönigung aufkommen kann. Noch weniger darf natürlich von den Bemühungen publik werden, die in der Industrie schon vor Eintritt des halbwegs rechtfertigenden Notstands auf die Bereitstellung chemischer Waffen gerichtet worden sind.»

Wollte Fritz Haber seine Frau umstimmen?

Der Physiker James Franck wurde 1915 als einer der ersten in Habers Gaskriegspionierregiment mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Er verweigerte im Zweiten Weltkrieg mit dem berühmten James-Franck-Report die Mitarbeit an der Atombombe.

Er überliefert als einziger Wissenschaftler, dass Fritz Haber sich ernsthaft bemüht hat, seine Frau von ihren ausgesprochen politischen und menschlichen Ansichten abzubringen: «Sie wollte die Welt reformieren. Dass ihr Mann im Gaskampf tätig war, hat sicher Einfluss auf ihren Selbstmord gehabt.» Wäre Clara Immerwahr in anerkannter Position und männlichen Geschlechts als Warnerin in die Geschichte eingegangen?

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