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Gesellschaft & Religion Europa liegt in Göttingen

Die Wahlen ins Europäische Parlament rücken die Frage nach der Identität Europas ins Zentrum. Eine Frage nach den Werten, aber auch nach der gemeinsamen Vergangenheit. Und es stellt sich auch die Frage, wie viel Brüssel und Strassburg überhaupt mit dem Alltag der Menschen in Europa zu tun haben.

Als die Chansonnière Barbara im Juli 1964 nach Göttingen kam, mit ihrem Lied «Göttingen» im Gepäck, gab es die Europäische Union noch nicht. Noch hiess sie Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, und sie verstand sich als ein Projekt, das auf Zukunft angelegt war. Um den Frieden ging es in dieser Zukunft, um die Vielfalt in der Einheit und um einen gesicherten Wohlstand für alle.

«Göttingen» von Barbara

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Legende: Keystone

1964 kam die französische Sängerin Barbara für ein Konzert nach Göttingen. Weil sie als Kind im besetzten Frankreich vor den Nazis auf der Flucht war, kam sie nur widerwillig nach Deutschland, blieb dann aber eine ganze Woche in Göttingen. In dieser Zeit schreib sie das gleichnamige Stück. Video von «Göttingen» bei YouTube

Barbara nahm in ihrem Lied, das sie mit brüchiger Stimme vortrug, diesen Gedanken vom Frieden in Europa auf, in diesem Vers «Ô faites que jamais ne revienne / le temps du sang et de la haine» («Oh macht, dass sie nie mehr wieder kommt / die Zeit des Blutes und des Hasses»).

Und die Vielfalt des Kontinents besang sie kurz und schön mit der Zeile «Ils savent mieux que nous, je pense / L'histoire de nos rois de France / Herrman, Peter, Helga et Hans / A Göttingen» («Sie kennen sie besser als wir, denke ich / die Geschichte unserer französischen Könige / Herrman, Peter, Helga und Hans / In Göttingen»). Die Menschen applaudierten frenetisch, Europa lag in Göttingen.

Zwei Gesichter Europas

Heute, 50 Jahre später, bei den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament, hat dieses Europa zwei Gesichter gekriegt. Das eine blickt mit dem stets etwas steifen Gestus eines José Manuel Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Union, auf diesen Kontinent. Barroso und seine Funktionäre orientieren Europa über Entscheide, von denen viele Bürger wissen, dass sie erst nach langem Feilschen und oft hinter den Kulissen zustandegekommen sind. Kühles Reden, angereichert mit viel europafreundlicher Emphase, mit der harte Entscheide verkündet werden: Es geht um die Eurokrise, es geht um die Bankenrettung, es geht um Verbraucherpolitik, es geht um die Stärkung der Aussengrenze Europas.

Das Brüsseler Personal, sagt die Publizistin und EU-Beobachterin Jacqueline Hénard, ist nicht geeignet, «so etwas wie Identifikation mit diesem Europa aufkommen zu lassen». Allzu distanziert, allzu abstrakt ist das, was da verkündet und entschieden wird.

Das andere Gesicht Europas hingegen ist ein sehr konkretes. Da ist das Spital in Thessaloniki, das wegen dem Spardiktat aus Brüssel geschlossen werden musste, da sind die Flüchtlinge auf Ceuta, die im Zaun der EU-Aussengrenze hängen bleiben, da sind die vielen Jugendlichen in Spanien, die ohne Arbeit sind. Die alltäglichen Sorgen der Bürgerinnen und Bürger, die alle mit der Politik in Brüssel zu tun haben, die ihren Weg aber nicht bis dahin finden.

Eine Lücke zwischen Politik und Alltagssorgen

Blick auf den Plenarsaal des EU-Parlaments.
Legende: Befinden sich die Mitglieder des Europäischen Parlaments in einer «europäischen Blase»? Keystone

Da tut sich seit vielen Jahren eine Lücke auf zwischen der Politik der EU und den Alltagssorgen der Menschen. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments, eigentlich dazu gewählt, um genau diese Sorgen aufzunehmen, leben und arbeiten zu weit weg, pendeln hin und her zwischen Brüssel und Strassburg, in einer Art europäischen Blase; und es gibt kaum ein Medium, beklagt der spanische Politologe José Ignacio Torreblanca, das gesamteuropäische Anliegen auch für ganz Europa thematisieren würde, von Euronews einmal abgesehen.

Es gibt, sagt er, «keine spürbare europäische Öffentlichkeit», die das Gefühl vermitteln würde, man gehöre zusammen. Und es fehlt, betont die Publizistin Jacqueline Hénard, an einer Politik, welche die europäischen Bürger immer wieder an die gemeinsamen Werte Europas erinnert; daran, dass die EU nach wie vor ein Friedensprojekt ist, dass auf diesem Kontinent der Schutz von Menschenrechten zentral ist, dass Europa auf dem Prinzip der Solidarität beruht, dass auf diesem Kontinent Anliegen wie der Schutz der Umwelt zentral sind, und so weiter.

Populistische Breschen

In diese Lücke brechen sie nun ein, die rechtspopulistischen Parteien, und schlagen Breschen. Die UKIP in Grossbritannien, die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich, Geert Wilders in Holland – sie alle machen ein attraktives, identitätsstiftendes Angebot: zurück zum Nationalstaat, zurück zum Kleinräumigen, zurück zum Eigenen. Man suggeriert, dass die Nation viel besser in der Lage sei, die Probleme der Bürger zu lösen, und man wettert gegen zwei Sündenböcke zugleich: gegen die «Eurokraten» in Brüssel und gegen die Ausländer, bei denen die heutigen Bürger Europas durchaus mitgemeint sind.

Hier die «Krake Brüssel», dort die «Flut der Ausländer» – ein attraktives Angebot für alle, die durch die Globalisierung verunsichert sind, durch dieses immer weitläufiger werdende Europa. Die Rechtspopulisten machen eine «Politik der Instinkte», sagt Jacqueline Hénard und fragt, was dieser Politik entgegengesetzt werden könnte.

Zurück nach Göttingen

Der Politologe José Ignacio Torreblanca wünscht sich Politiker, die willens und fähig sind, der Instinktpolitik von rechts etwas entgegenzusetzen. Politikerinnen, die europäische Bürgerinnen mit dem Gedanken von und an Europa wieder begeistern können, die einstehen für Diversität, für offene Grenzen, für Solidarität, für Menschenrechte und was alles dieses Europa noch ausmacht.

Sie fehlen, diese Politiker, sagt Torreblanca. Vielleicht sollten sie auf eine Zeitreise geschickt werden, nach Göttingen, mit Barbaras Lied im Ohr, «Ô faites que jamais ne revienne / le temps du sang et de la haine», um sie an das zu erinnern, worauf es in Europa auch heute noch ankommt.

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