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Filosofix «Wir alle haben die Macht, etwas zu bewegen»

Tag für Tag sterben etwa 20‘000 Kinder an den Folgen von Armut. Was können wir dagegen tun? Wozu sind wir moralisch verpflichtet? Die Philosophin Barbara Bleisch erläutert, welche Verantwortung wir gegenüber Menschen in Not haben und warum das Gedankenexperiment «Kind im Teich» zu kurz greift.

Kind im Teich

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Müssen wir helfen? Sehen Sie hier den Animationsfilm zum Gedankenexperiment «Kind im Teich».

Frau Bleisch, was würden Sie opfern, um ein ertrinkendes Kind zu retten?

Barbara Bleisch: Wohl so ziemlich alles. Eine Notsituation wie diese lässt einem keine Zeit zum Nachdenken – auch nicht, um mögliche Gefahren abzuschätzen.

Der australische Philosoph Peter Singer meint, es mache moralisch gesehen keinen Unterscheid, ob ein Kind vor unseren Augen ertrinkt oder weit entfernt an den Folgen von Armut stirbt. Er behauptet, in beiden Fällen können wir helfen, ohne dafür grosse Opfer zu bringen. Allein das würde uns zum Helfen verpflichten. Stimmen Sie zu?

Jein. Ich stimme zu, dass wir in beiden Fällen helfen müssen. Ich glaube aber weder, dass die beiden Situationen moralisch gesehen gleich sind. Noch würde ich behaupten, dass allein der Umstand, dass wir helfen können, uns auch zu Hilfe verpflichtet. Das würde bedeuten, dass aus einem Können ein Sollen folgt – das halte ich für falsch.

Zur Person

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Barbara Bleisch ist Philosophin und Moderatorin der «Sternstunde Philosophie». Das Teich-Beispiel analysiert sie in ihrem Buch «Pflichten auf Distanz. Weltarmut und individuelle Verantwortung». De Gruyter, Berlin/New York 2011.

Weshalb? Ist es nicht unmenschlich, nicht zu helfen, wenn ich es vermag?

In gewissen Situationen sicher – beispielsweise wenn ein Mensch am Ertrinken ist. Wir sprechen dann von Nothilfe, und die ist in vielen Staaten sogar rechtlich verpflichtend. Ich meine überdies, dass wir einander ganz generell helfen sollten. Nicht alle haben gleich viel Glück im Leben, und uns alle kann das Schicksal hart treffen.

Immanuel Kant spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Menschen verletzlich sind, und wir deshalb aufeinander angewiesen sind. Es ist jedoch diese Verletzlichkeit, die uns zu Hilfe verpflichtet, nicht unser Können.

Sehen das die Utilitaristen anders?

Video
Peter Singer - Der Weltverbesserer unter den Philosophen
Aus Sternstunde Philosophie vom 16.08.2015.
abspielen. Laufzeit 55 Minuten 32 Sekunden.

Utilitaristen wie Peter Singer sind der Überzeugung, dass wir – vereinfacht gesagt – alles daran setzen sollten, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, wo weniger Wesen leiden müssen. Dabei spielt auch die Maximierungsidee eine Rolle: Wir sollen so lange helfen, bis es uns gleich gut oder schlecht geht wie den Wesen, die Hilfe benötigen.

Kant würde so weit nicht gehen. Wir sind seiner Meinung nach auch verpflichtet, unsere Talente zu verwirklichen und dafür zu sorgen, dass andere Menschen nicht von uns abhängig werden.

Viele sagen, Entwicklungshilfe mache abhängig ...

Das mag für einzelne Formen der Entwicklungshilfe gelten, für andere nicht. Ganz unabhängig davon darf man Kant aber nicht so interpretieren, dass man fein raus wäre und nicht helfen müsste, weil man beispielsweise noch sein Talent im Einrichten der eigenen Wohnung vervollkommnen muss und deshalb alles Geld in Designermöbel investieren sollte ... Kants kategorischer Imperativ ist auch bezüglich Hilfspflichten ganz schön anspruchsvoll. Und das Talent, das Schöne zu erkennen und zu befördern, liesse sich sicher auch ohne Designermöbel realisieren.

Zurück zu Ihrem ersten Punkt: Sie meinen also, die Analogie ist schief? Das ertrinkende Kind ist nicht vergleichbar mit einem verhungernden Kind?

Es gibt natürlich eine Menge Unterschiede: geografische Distanz; der Umstand, dass effizient zu helfen im Fall der Armut schwieriger ist; die Frage, ob nachhaltige Hilfe möglich ist; wie viele Menschen zugegen sind, die auch helfen könnten, aber womöglich nichts tun, etc. Einige dieser Punkte greift der Filosofix-Film ja auch auf.

Peter Singer negiert diese Unterschiede ja nicht, er sagt bloss, keiner davon sei moralisch relevant.

Ja, genau. Ich sehe das aber anders. Das Teich-Beispiel als Analogie zu extremer Armut müsste etwa so aussehen: Sie gehen an einem Teich vorbei, in dem täglich Dutzende von Kindern ertrinken. Jedes Mal springen Sie hinein und retten, wen Sie können. Viele Spaziergänger kümmern die Kinder aber nicht, sie gehen einfach weiter. Was müssten Sie in dieser Situation tun? Sie müssten die Behörden informieren; es würde ein Zaun gebaut; Eltern, die ihre Kinder unbeaufsichtigt am Teich spielen lassen, erhielten eine Busse etc. In der Ethik spricht man von Verantwortungszuweisung: eine Situation, in der nicht eine Person alle moralische Last schultern muss, sondern alle gemeinsam versuchen, die Situation zu verbessern – notfalls mit institutionalisierten Regeln wie Vorschriften und Bussen.

Genau das passiert aber nicht in den Regionen, in denen Hunger herrscht.

Das stimmt, und genau das ist ja auch das Problem. Unsere Pflicht ist es deshalb darauf hinzuwirken, dass sich die Rahmenbedingungen auch für diese Kinder verändern. Wir alle haben die Macht, etwas zu bewegen: als Bürger in einer Demokratie, als Konsumenten – und ja: auch als Spender.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Spenden Sie so viel wie Sie aus ethischen Überlegungen für richtig halten – oder haben Sie oft ein schlechtes Gewissen?

Nein, ich spende nicht genug. Ich bewundere Menschen, die sich an die alte Idee des «Zehnten» halten und einen Zehntel ihres Einkommens spenden. Meine Regel ist immerhin, dass ich jedes Mal, wenn ich Rechnungen bezahle, auch etwas an ein Hilfswerk überweise. Ein schlechtes Gewissen habe ich vor allem, was mein Zeitbudget anbelangt: Ich finde, ich sollte mehr Zeit in Freiwilligenarbeit investieren und habe mir das fürs neue Jahr gerade wieder vorgenommen. Helfen ist ja nicht nur Bezahlen.

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