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Gesellschaft & Religion Hat Religion ein Integrationsproblem?

In Therwil, Baselland, wollten zwei Jugendliche ihrer Lehrerin die Hand nicht geben – aus religiösen Gründen. Schnell wurde die Geschichte hochstilisiert zu einem Paradebeispiel der angeblich mangelnden Integration der Muslime. Verhindert Religion Integration? Zwei Experten diskutieren.

SRF Kultur: Ist Religion ein Problem für die Integration?

Lilo Roost-Vischer: Eigentlich gibt es erstaunlich wenig Probleme, nur werden ein paar wenige medial gross aufbereitet. Dabei ist meist nicht die Religion das Problem, sondern die grosse Diversität. Es gibt keine einheitliche Kultur in der Schweiz und wir müssen mit der Diversität, verschiedenen Religionszugehörigkeiten, Glaubensprofilen und Lebensstilen umgehen können.

Die Experten:

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Lilo Roost-Vischer ist Koordinatorin für Religionsfragen im Kanton Basel und Dozentin für angewandte Ethnologie. Martin Baumann ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.

Martin Baumann: Oft werden Kleinigkeiten zu Problemen gemacht. Natürlich gibt es Konflikte, wenn der Glauben streng gelebt wird. Es gibt dann Ausschliessungsprozesse, nicht nur bei Muslimen, sondern auch bei freikirchlichen Gruppen. Aber diese Probleme sind marginal, sie betreffen nur wenige Leute.

Man hört immer mehr von Muslimen, die sich radikalisieren. Das ist doch ein Problem?

Martin Baumann: Ein grösseres Forschungsprojekt der Universität Luzern zu muslimischen Jugendlichen zeigt, dass bei jungen Muslimen eine grosse Spannbreite besteht: Einige sind religiöser, viele weniger. Die Radikalisierung ist nur bei einer kleinen Minderheit ein Thema. Die meisten frommen Muslime möchten ihre Religion zwar leben und fromm sein, aber gleichzeitig an der Gesellschaft, an der Bildung teilhaben und einen Beruf haben.

Was bedeutet denn Integration?

Martin Baumann: Integration bedeutet Teilhabe an Bildung, Arbeit und Politik.

Lilo Roost-Vischer: Ein weiterer zentraler Begriff ist die Zugehörigkeit. Gerade wenn man Radikalisierungsfälle genauer anschaut, sieht man, dass fehlende Zugehörigkeit eine wichtige Rolle spielt. Dazu kommt fehlende religiöse Bildung. Deswegen ist es wichtig, dass der Staat dafür sorgt, dass die Diskriminierung im Wohn- und Arbeitsmarkt und in der Ausbildung abgebaut wird. So kann Zugehörigkeit aufgebaut werden.

Wieviel Entgegenkommen können wir von Immigranten mit anderer Religion fordern?

Lilo Roost-Vischer: Der rechtliche Rahmen muss beachtet werden. Speziell für staatlich anerkannte Gemeinschaften gilt, dass der Staat eine Verpflichtung hat, gegen Diskriminierung anzukämpfen. Homophobie, beispielsweise, kann in anerkannten Gemeinschaften nicht akzeptiert werden. Alle Religionen haben problematische Stellen in ihren Schriften. Nur geht es darum, wie man damit umgehen will.

Martin Baumann: Die Gemeinschaft sollte auch eine Offenheit nach aussen haben und versuchen, sich in der Gesellschaft einzubringen. Das schafft Verständnis, und damit lösen sich viele Probleme.

Haben die Schweizer und Schweizerinnen ein Problem mit der Integration?

Martin Baumann: Es besteht eine Bringschuld der Migranten, das zeigt das Ausländerrecht – aber auch die ansässige Bevölkerung muss entgegenkommen. Daran mangelt es manchmal. Gerade Tage der offenen Tür sind oft schwach besucht. Viele Schweizer und Schweizerinnen ziehen sich zurück, und denken: Wir wissen schon alles. Da erwarte ich etwas mehr Offenheit. Allerdings glaube ich nicht, dass die Schweizer schuld daran sind, wenn es Probleme gibt bei der Integration. Solche Probleme gibt es immer, wenn unterschiedliche Personen zusammenleben.

Lilo Roost-Vischer: Menschen können Differenzen immer schlechter ertragen. Es ist eine Frage der Ressourcen: Wieviel Kraft hat man, um mit Verschiedenheit umzugehen.

Wenn jemand fünf Mal am Tag beten möchte – wie kann das mit der Arbeit vereinbart werden?

Lilo Roost-Vischer: Wichtig ist, dass es Beratungsstellen gibt, die bei solchen Problemen helfen. Dann kann man gemeinsam ganz praktische Lösungen suchen. So können Gebetszeiten zum Beispiel als Pausen abgerechnet werden, wie eine Zigarettenpause.

Martin Baumann: Man muss auch bedenken: Religion ist nicht so starr und fix, wie manche denken. Religion ist auch flexibel, zum Beispiel kann man Gebete auch verschieben. Es braucht dazu aber das Gespräch und eine Dialogkultur.

Kann Religion auch helfen bei der Integration?

Lilo Roost-Vischer: Religionsgemeinschaften sind oft ein Stück Heimat, sozial wie auch spirituell. Migranten können dort Kontakte knüpfen und ihre Traditionen pflegen.

Martin Baumann: Kirchen, Tempel und Moscheen sind auch Brücken zur Gesellschaft. Sie geben Informationen über das Leben in der Schweiz. Viele bieten auch Sprachkurse und Freizeitangebote an.

Welche Lösungen gibt es für Konflikte?

Lilo Roost-Vischer: Einerseits ist es Aufgabe des Staates, mit religiöser Vielfalt umzugehen. Religionsgemeinschaften müssen integriert werden, Abschottung muss verhindert werden. Dazu gehört mehr und bessere Information, mehr Kontakte und ein sachlicher Umgang mit Fakten. Andererseits ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft, in den interreligiösen Dialog zu treten.

Martin Baumann: Wir sollten etwas entspannter mit Religion umgehen. Religion ist ein Teil des Lebens, bei vielen bestimmt sie nicht das ganze Leben. Da wird viel dramatisiert und überhöht. So könnte man doch Jihadisten als Einzelfälle betrachten, und nicht als Stellvertreter für die ganze islamische Gemeinschaft.

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