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Gesellschaft & Religion Menschenwürde – mehr als ein schöner Begriff?

Jeder hat sie, aber keiner weiss genau, worin sie besteht und was sie auszeichnet: die Menschenwürde. Der Philosoph Holger Baumann erforscht das umstrittene Konzept.

Die amerikanische Medizinethikerin Ruth Macklin behauptete 2003 in einer bedeutenden philosophischen Zeitschrift, Menschenwürde sei ein unnützes Konzept. Holger Baumann, Sie leiten ein Forschungsnetzwerk zu «Menschenwürde». Was entgegnen Sie Macklin?

Dass ihre Verabschiedung des Würdebegriffs voreilig ist. Macklin hat zwar Recht damit, dass der Begriff der Würde notorisch unklar ist und in vielen Fällen nur dazu dient, weltanschauliche Ideen zu untermauern, ohne Argumente zu liefern. Doch dies gilt in gleicher Weise für andere philosophische Grundbegriffe wie zum Beispiel Freiheit und Gerechtigkeit.

Zur Person

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Legende: ZVG

Holger Baumann leitet seit 2009 ein Forschungsnetzwerk zu «Menschenwürde in praktischen Kontexten» am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er untersucht unter anderem, was Menschenwürde im Zusammenhang der Suizidbeihilfe, des Organhandels oder der biotechnischen Verbesserung des Menschen bedeutet.

Genau deswegen streitet man sich ja auch darüber, was eigentlich gerecht ist oder worin Freiheit besteht…

Genau – und dieser Streit hat zum Ziel, die Rolle und den Inhalt eines Begriffs zu klären. Macklin macht aber noch auf ein zweites Problem aufmerksam: Mit der Forderung, die Würde des Menschen dürfe man nicht verletzen, ist häufig nichts anderes gemeint, als dass seine Autonomie geachtet werden muss. Die Befürworter der Suizidbeihilfe nehmen zum Beispiel oft Bezug auf die Menschenwürde um zu belegen, dass jeder selbst über Art und Zeitpunkt seines Todes bestimmen können muss. Macklin meint deshalb, es brauche den Begriff der Menschenwürde gar nicht.

Man könnte ihn ersetzen durch Autonomie?

Tatsächlich steht Würde häufig in einem engen Zusammenhang mit Autonomie. Folter oder Sklaverei, die oft als paradigmatische Würdeverletzungen genannt werden, verletzen klarerweise die Autonomie von Personen. Doch es gibt andere Beispiele, in denen dieser Zusammenhang nicht so offenkundig ist. Der israelische Philosoph Avishai Margalit beschreibt, dass während des NS-Regimes Juden dazu gezwungen wurden, den Gehsteig mit Zahnbürsten zu fegen. Das Entwürdigende daran ist sicher nicht allein, dass man die Juden gezwungen hat.

Sondern?

Dass sie etwas tun mussten, was alleine dazu dient, sie zu demütigen. Jeder weiss, dass sich mit Zahnbürsten kein Gehsteig sauber fegen lässt, die Handlung wirkt lächerlich et cetera. In einer solchen Situation können Menschen sich nur noch schwerlich selber achten, und genau darin besteht die Verletzung ihrer Würde.

Im Zusammenhang mit dem Klonen von Menschen oder mit der Präimplantationsdiagnostik klagen Gegner einer liberaleren Gesetzgebung immer wieder die «Würde des Embryos» ein. Ein Embryo ist aber weder autonom, noch kann er gedemütigt werden.

Absolut richtig. Wenn Menschenwürde an das Vorliegen spezifischer personaler Fähigkeiten geknüpft wird wie Autonomie oder Selbstachtung, dann hätten gerade besonders verletzliche Menschen wie zum Beispiel Demente, Behinderte oder eben Ungeborene keine Würde. Einige bezeichnen deshalb mit Würde den unbedingten Wert jedes Menschen, den er allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies besitzt. Dann hätte auch ein Embryo Würde.

Und warum sollte die Spezieszugehörigkeit eine Grenze ziehen hinsichtlich der Frage, ob jemand über Würde verfügt?

Es ist tatsächlich unklar, warum die biologische Zugehörigkeit normativ relevant sein soll, und mich überzeugt diese Position auch nicht. Sie sehen schon: Die philosophische Debatte um die Frage, worin Menschenwürde besteht, ist nicht zu Ende geführt…

Der Philosoph Peter Bieri behauptet in seinem neusten Buch «Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde», die Würde sei das höchste Gut des Menschen. Stimmt das?

Wenn damit gemeint ist, dass jeder Mensch über gewisse Rechte verfügt, die niemand verletzen darf, dann stimme ich ihm zu. Folter beispielsweise halte ich unter allen Umständen für inakzeptabel. Bieri meint aber mehr als das: Er meint, dass es für uns Menschen nicht nur besonders wichtig ist, von anderen in unserer Würde geachtet zu werden, sondern dass wir selber in unserer Weise, wie wir leben, Menschenwürde zum Ausdruck bringen können – oder eben nicht.

Damit spricht er in gewisser Weise eine andere Idee von Würde an: Gemeint ist nicht mehr die inhärente Würde, die jedem Menschen zukommt und unverlierbar ist, sondern eine kontingente Würde, die man in seinem Handeln und Leben erlangen und der man gerecht werden muss.

Ich kann also meine eigene Würde verletzen?

So abwegig ist das nicht. Schon Kant hatte die Idee, dass «Kriecherei», also sich einzuschleimen bei anderen, mit der Menschenwürde nicht vereinbar ist. Wer in einer Lebenslüge lebt, führt vielleicht auch kein besonders würdevolles Leben. Ich fasse den Menschenwürdebegriff dennoch enger, denn ansonsten droht genau die Verwässerung, die Ruth Macklin kritisiert hat.

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