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Im Ungewissen: Untersuchungshaft
Aus Kontext vom 01.03.2021. Bild: KEYSTONE / KARL MATHIS
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U-Haft in der Schweiz Untersuchungshaft: Warten im Ungewissen

Völlig unverhofft werden Personen zuweilen in Untersuchungshaft gesteckt. Ein Betroffener erzählt vom Schock und der Scham.

Den heute siebzigjährigen Paul Hug* ereilte es vor 15 Jahren plötzlich. Seine Haustür war versiegelt. Er rief die Polizei an, die ihn anwies, tags darauf auf dem Posten vorzusprechen. Da werde er alles Weitere erfahren.

«Ich ging ahnungslos hin», erzählt Hug heute. Auf dem Posten warteten bereits zwei Polizisten auf ihn. «Kommen Sie mit», gaben sie ihm ziemlich zackig zu verstehen. Hug kam in einen leeren, nüchternen Raum. «Ziehen Sie sich aus», wurde ihm befohlen. Er fragte warum. «Ziehen Sie sich einfach aus», erhielt er als Antwort.

Hug stand kurz darauf in der Unterwäsche da und ihm wurde mitgeteilt, er müsse alle seine Kleider abgeben. Einmal mehr startete Hug ahnungslos einen Aufklärungsversuch: «Worum geht es?»

«Eines Morgens hiess es, ich werde entlassen»

So begann Paul Hugs erste Untersuchungshaft. Der Grund: Betrugsverdacht. «Ich sah keinen Anwalt und wurde nicht informiert, dass ich ein Recht darauf hätte.» Acht Tage war er eingesperrt, täglich wurde er von 9 bis 12:30 und 14 bis 18 Uhr befragt.

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Aus dem Archiv: Strenge U-Haft in Zürich
Aus Schweiz aktuell vom 13.07.2018.
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«Eines Morgens hiess es, ich werde entlassen. Ich erhielt das Handy zurück.» Doch dann kam der Schock: Hug wusste nicht, wen er anrufen sollte. Niemand hatte seinen Sohn und seine Ex-Frau benachrichtigt, wo er steckte.

Existenz zertrümmert

Wieder zuhause angekommen, stand er vor der verriegelten Tür. Geld hatte er kaum noch, er konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Ihm drohte die Zwangsräumung.

Obwohl das Erlebnis weit zurückliegt, überwältigen Hug beim Erzählen die Emotionen. «Für die ungerechtfertigte Untersuchungshaft bekam ich weder eine Entschuldigung noch eine Entschädigung», so Hug.

Untersuchungshaft:

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In Untersuchungshaft gesetzt werden kann, wer einer Tat «dringend verdächtigt» ist und einen weiteren Haftgrund erfüllt: die Gefahr der Flucht, der Kollusion oder Verdunkelung, der Fortsetzung oder Wiederholung einer Tat (Art. 220 – Art. 228 StPO).

Beantragt wird U-Haft von der Staatsanwaltschaft innert 48 Stunden nach Festnahme einer Person. Über den Antrag entscheidet das Zwangsmassnahmengericht ebenfalls innert 48 Stunden. Eine allfällige Verlängerung der U-Haft wird meist jeweils für drei Monate bewilligt.

Das Bundesamt für Statistik erhebt die Zahl der Untersuchungshäftlinge jährlich an einem Stichtag. 2020 waren es 1902 Personen, davon 92 Prozent Männer. Im Durchschnitt verbringen sie 35 Tage in U-Haft, jeder Zwanzigste laut Zahlen von humanrights.ch aber länger als sechs Monate. Die Dauer ist gesetzlich nicht begrenzt.

Erneut in U-Haft

Als Hug fünf Jahre danach erneut in U-Haft sass, wiederum wegen Betrugverdachts, hörte er nachts Lärm. «In der Nachbarzelle hat einer geschrien. Niemand kümmerte sich darum.» Er hörte, wie jemand mit dem Kopf gegen die Wand donnert, und polterte an die Tür. Nichts passierte. Plötzlich war es still.

Frühmorgens hörte er: «Ou, Scheisse!» Sofort herrschte grosser Aufruhr. Er wusste, was geschehen war.

Seelsorger betreut Insassen

Thorsten Bunz arbeitet seit über 20 Jahren mit Gefangenen. Der evangelisch-reformierte Gemeindepfarrer von Bözberg-Mönthal betreut Teilzeit die vier Aargauer Bezirksgefängnisse.

«Manche Untersuchungshäftlinge fallen aus allen Wolken und wissen nicht, was ihnen vorgeworfen wird», sagt er.
«Andere wissen, was Sache ist, und sind manchmal sogar froh, dass es vorüber ist mit den Lügen und dem Versteckspiel.»

Häufig schämen sie sich für ihre Tat, erzählt der Seelsorger.

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Gefängnisseelsorger Thorsten Bunz im Gespräch
aus Kontext vom 01.03.2021. Bild: Christine Straberg
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Haftschock
durch die unvermittelte Festnahme

Die unvermittelte Festnahme kann zu einem Haftschock führen. Bei längerer U-Haft durchlebten die Häftlinge emotional ein Wechselbad. Auch weil unklar ist, ob und wann jemand das Gefängnis verlassen kann.

Zur quälenden Ungewissheit kommen praktische Sorgen: «Hält die Partnerschaft? Zerbricht die Familie? Verliere ich meine Arbeit? Wer kümmert sich um die Wohnung? Wer zahlt die Miete? Wer versorgt das Haustier?»

23 Stunden pro Tag in Isolation

Die U-Häftlinge unterliegen einer Kontaktsperre, damit sie weder Beweismittel verändern noch sich mit Komplizen oder Geschädigten absprechen.

23 Stunden pro Tag sitzen sie in der Zelle. Wegen der psychischen Belastung und der Isolation hört der Seelsorger Thorsten Bunz gelegentlich aus Äusserungen Suizid-Absichten heraus. Aus Verzweiflung und teilweise aus der Überforderung, mit ihrer Schuld konfrontiert zu sein.

Was kann der Gefängnispfarrer für die Untersuchungshäftlinge tun? Ihnen einfach zuhören, sagt Thorsten Bunz: «Ich urteile nicht. Das erleben sie in dieser Phase kaum. Das tut ihnen gut.»


*Name der Redaktion bekannt

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 2.3.2021, 9:03 Uhr

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