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Gesellschaft & Religion Ungarns Rechtsrutsch – auch auf der Bühne

Das ungarische Parlament dürfte auch die neusten Verfassungsänderungen von Premier Viktor Orban annehmen. Damit wird der Staat autoritärer: Die EU mahnt, die Bevölkerung demonstriert und die Kulturschaffenden müssen immer härter kämpfen.

Tausende Menschen haben am Wochenende in Budapest gegen eine Änderung der Verfassung demonstriert. Die neuen Bestimmungen würden das Verfassungsgericht entmachten, die Unabhängigkeit der Justiz sowie der Universitäten beeinträchtigen und Hochschulabsolventen daran hindern, Jobs im EU-Ausland anzunehmen, lautet die Kritik. Doch die wird wohl ungehört verhallen: Die Verfassungsänderung soll an diesem Montag von der rechten Regierungsmehrheit im Parlament verabschiedet werden.

Ungarn verabschiedet sich vom Rechtsstaat

Mitten in Europa gibt also ein Land das Prinzip des Rechtsstaats auf, gleichzeitig scheinen Antisemitismus und Rassenhass in Ungarn wieder salonfähig geworden zu sein. Erst im Januar verglich ein regierungsnaher Journalist des rechten Hetzblattes «Magyar Hirlap» Roma mit Tieren: «Sie sollen nicht existieren, die Tiere. Das muss man lösen – sofort und mit allen Mitteln.»

Dem weltbekannten Pianisten Andras Schiff, Artist in Residence der Zürcher Tonhalle, kommt dieser Ton durchaus bekannt vor. Er hatte im Januar 2011 einen Leserbrief an die Washington Post geschrieben und sich gefragt, ob Ungarn angesichts des aufkochenden Rassismus und Chauvinismus reif sei für die EU-Präsidentschaft. Daraufhin wurde er in ungarischen Blogs auf die übelste Weise antisemitisch beschimpft. Man drohte gar, ihm die Hände abzuhacken, sollte er nach Ungarn reisen. Nach Ungarn aber, so Schiff heute, werde er nie mehr zurückkehren.

Sündenböcke gesucht

Was ist das für ein Land, wo ein harmloser Leserbrief als Hochverrat gilt? In dem europäische Werte wie Demokratie und Toleranz auf dem Prüfstand zu stehen scheinen?

Es ist ein bitterarmes, hochverschuldetes Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Die wirtschaftliche Misere ist älter, als die aktuelle Regierung, doch Premier Viktor Orban hat sie durch eine rigide Sparpolitik verschärft. Die sozialen Spannungen wuchsen.

Die Gesellschaft sucht unter diesen Vorzeichen Sündenböcke: Minderheiten, Intellektuelle, schlicht alles vermeintlich Anti-Ungarische gerät unter Verdacht. Dazu passt die forcierte Rückbesinnung auf nationale Werte. Die neue Verfassung von 2012 wird mit einem «nationalen Glaubensbekenntnis» eröffnet. Betont wird der Stolz auf die «grossartigen geistigen Schöpfungen ungarischer Menschen», auf die «Grösse der ungarischen Nation».

Neu soll die Bühne zum sakralen Ort werden

Unabhängige Kulturschaffende passen nicht mehr in dieses nationalistische Schema. Ein Künstler wie Robert Alföldi schon gar nicht. Der Direktor des Nationaltheaters in Budapest ist ein schillernder Star. Alföldis kritisches Theater befasst sich mit den gesellschaftlichen Fragen im Hier und Jetzt. Damit spricht er erfolgreich das junge städtische Publikum an. Die «Jobbik», die rechtsextreme Partei Ungarns – sie belegt fast einen Fünftel aller Parlamentssitze – reagiert darauf mit Hass. So musste sich Alföldi im Parlament als Homosexueller verhöhnen lassen.

Auf Ende der Spielzeit wird er als Direktor abgesetzt. Sein Nachfolger heisst Attila Vidnyanszky, auch er ein anerkannter Theatermann. Er will das Theater zum sakralen Ort machen. Im Mittelpunkt seiner Inszenierungen stehen die grossen Fragen des Menschseins, nicht konkrete Probleme. Ausschlaggebend für Vidnyanszkys Wahl ist seine Nähe zur Regierung. Denn er garantiert, dass am Nationaltheater das «nationale Glaubensbekenntnis» auch auf der Bühne Einzug hält.

Die Geister der Vergangenheit sind noch lebendig

«Theater soll sich auch mit der Vergangenheit befassen, mit dem, was bis heute ungeklärt ist», sagt Robert Alföldi, «denn wenn wir der eigenen Geschichte nicht in die Augen schauen, verfolgt sie uns bis heute.»

Tatsächlich sind viele nationale Traumata nicht aufgearbeitet: Die Gebietsverluste nach dem ersten Weltkrieg etwa. Die Ära des zweiten Weltkriegs, als ungarische  Nationalsozialisten den Deutschen beim Holocaust halfen. Und nicht zuletzt die Jahre des Stalinismus, als Intellektuelle ermordet und Grundbesitzer enteignet wurden. Kaum ein Ungar, dessen Familie nicht das eine oder andere Trauma miterlebt hat – als Täter oder als Opfer.

Phantomschmerzen kommen von den vielen alten Wunden

Tausend unsichtbare Gräben durchziehen die Gesellschaft. «Es gibt so viele alte Wunden in Ungarn», sagt die Journalistin Julia Varadi, «und sie bluten immer noch. Das Land hat Phantomschmerzen.»

Womöglich ist der beunruhigende Nationalismus ein Ausdruck dieses Phantomschmerzes. Ausgelöst durch die Irrungen und Wirrungen der wechselvollen Geschichte. Eine Vergangenheitsbewältigung hat nicht stattgefunden. Das nützen die dunklen Gespenster der Vergangenheit aus, um sich bemerkbar zu machen.

Video
Ungarn auf nationalem Kurs
Aus Kulturplatz vom 06.03.2013.
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 32 Sekunden.

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