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Gesellschaft & Religion Vom Entsetzen gepackt: traumatisierte Soldaten im 1. Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg war auch ein Nervenkrieg: Hunderttausende Soldaten kehrten traumatisiert von den Schlachtfeldern zurück. Viele blieben für den Rest ihres Lebens psychisch behindert, von Erlebnissen belastet und von schrecklichen Erinnerungen verfolgt. Hilfe gab es wenig. Misstrauen umso mehr.

Dieser Krieg war unheimlich – unheimlicher als alles, was man bisher über Krieg wusste. Bereits kurz nach Kriegsbeginn sickerten schaurige Berichte von der Front durch. Das ohnmächtige Warten auf einen unpersönlichen Tod mache die Soldaten verrückt – nicht nur Einzelne, sondern ganze Einheiten.

In den Lazaretten und Spitälern trafen bald merkwürdige Patienten ein. Sie hatten keine sichtbaren Wunden, aber viele auffällige Symptome: Tics, Stottern, unerklärliche Schmerzen und Übelkeit; auch hysterische Symptome wie Erblindung, Taubheit, Bewegungsstörungen und Lähmungen. Manche zitterten, andere schrien, wieder andere hatten das Gedächtnis oder ihre Stimme verloren.

Wie eine unkontrollierbare Epidemie

Diese Männer habe das Entsetzen gepackt angesichts eines extrem intensiven, industriell geführten Kriegs, sagt Fiona Reid, Historikerin an der Universität South Wales. Die Zahl seelisch verwundeter Soldaten stieg an allen Fronten rasch ins Unermessliche. Grossbritannien zählte 80'000 kriegstraumatisierte Männer, Deutschland und Frankreich je gegen 300'000.

Die Armeeführungen begannen das Phänomen zu fürchten wie den Ausbruch einer unkontrollierbaren Epidemie: «Ein Mann mit hysterischen Symptomen kann seine Kameraden so sehr destabilisieren, dass auch sie hysterisch werden. Daher wurden Männer, die Anzeichen psychischer Instabilität zeigten, sofort aus den Schützengräben entfernt. Zu gross war die Angst, dass sich die Krankheit auf weitere Teile der Truppe ausbreitet.»

Buchhinweise

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  • Fiona Reid: «Broken Men – Shell Shock, Treatment and Recovery in Britain 1914-30», Continuum, 2011.
  • Livia Prüll und Philipp Rauh (Hrsg.): «Krieg und medikale Kultur: Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914 –1945», Wallstein, 2014.

Ein bisher unbekanntes Ausmass

Die Männer standen unter Schock durch wochen- und monatelanges intensivstes und ohrenbetäubendes Granatenfeuer und die unerträgliche Ruhe dazwischen. Sie waren traumatisiert durch den blutigen Regen zerrissener Kameraden, durch den allgegenwärtigen Anblick und Geruch verstümmelter Körper, durch die ständige Angst vor dem eigenen Tod.

Zwar kannte man Geschichten von traumatisierten Soldaten schon aus früheren Kriegen. Aber nicht in diesem Ausmass, so Fiona Reid: «Alte Soldaten wussten, dass in einer Extremsituation jeder zusammenbrechen kann. Sie vermuteten den Wind der Granaten als Ursache. Britische Soldaten sagten deshalb von ihren psychisch kranken Kameraden, sie seien ‹windy›, also sprichwörtlich durch den Wind.»

Eine unerträgliche Angst

Die Ärzte versuchten mit einer Vielzahl an Begriffen zu fassen, was die Männer an der Front packte: Granaten-Schock, Kriegsneurose, Schüttelneurose, Kriegszittern, Neurasthenie, Kriegshysterie. Eine Vielzahl an Bezeichnungen für unterschiedliche Symptome, die heute unter der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden.

Diese beinhaltet vor allem ein Gefühl: Angst. Eine unerträgliche Angst, die schreckhaft und panisch macht und auch nach lange dem traumatisierenden Erlebnis nicht nachlässt. Diese Angst trieb noch auf den Schlachtfeldern manche zum Äussersten, erzählt Fiona Reid: «Es gibt Berichte über Suizide. Und es gibt Erzählungen über Männer mit auffällig riskantem Verhalten. Sie verliessen zum Beispiel ohne Anlass den Schützengraben, um die Stacheldrahtverhaue zu kontrollieren. Andere fügten sich selber Verletzungen zu.»

Ein psychotherapeutischer Crash-Kurs an der Front

Die Militärpsychiater waren mit diesen Patienten heillos überfordert, sagt Philipp Rauh, Historiker an der Universität Erlangen. Sie hätten solche Patienten noch nie zuvor gesehen und seien an der Front in einen psychotherapeutischen Crash-Kurs geraten. Derweil entwickelten die Psychiatrie-Professoren an den deutschen Universitäten zu immer neue grausame Therapie-Methoden: Stromstösse, Drohungen, Schmerzen und Ängste sollten die ihrer Ansicht nach «gemütslabilen Männer in die Gesundung treiben» und damit zurück an die Front. In Grossbritannien liefen ähnliche Entwicklungen ab.

Einige Spezialisten wagten allerdings auch Neues und wurden zu Pionieren der Trauma-Forschung und Therapie – unter ihnen der Psychologe Charles Myers von der Universität Cambridge. Er veröffentlicht im Frühjahr 1915 in der Fachzeitschrift «The Lancet» den ersten wissenschaftlichen Artikel über «shell shock», den Granatenschock.

Er erkannte, wie wichtig es ist, die Traumatisierung so schnell wie möglich zu behandeln, um Chronifizierung und Invalidisierung vorzubeugen. Andere Psychologen wie William Rivers konfrontierten ihre Patienten bewusst mit dem Erlebten – ein zentrales, erst später wieder entdecktes Element aller modernen Traumatherapien.

Lebensunwerte Kreaturen

Obwohl die Bevölkerung in Grossbritannien zunächst viel Sympathie zeigte für die kriegstraumatisierten Soldaten, kam auch Argwohn auf. Waren diese Männer nicht einfach Schwächlinge, Feiglinge und minderwertige Kreaturen. Ähnliche Vermutungen prägten auch die Diskussionen in den anderen betroffenen Ländern. Man befürchtete, diese Männer könnten das Rentensystem ausreizen. Das hässliche Wort der «Rentenneurose» ging um.

Auch die Militärjustiz ging hart gegen Soldaten vor, die davon rannten, den Einsatz verweigerten oder zusammenbrachen. Höchststrafe war die Exekution. Grossbritannien richtete während des Ersten Weltkriegs 304 Soldaten hin, Frankreich vermutlich über 600. Deutschland 48. Darunter waren sehr viele sehr junge Männer.

Nährboden für Nazi-Gräuel

Doch die giftigste Saat sollte erst noch aufgehen: im nationalsozialistischen Deutschland. Es war die Überzeugung der deutschen Universitätspsychiater des Ersten Weltkrieg, wonach minderwertiges Erbgut die eigentliche Ursache für traumatische Erkrankungen sei, die späteren NS-Gräueln den Boden bereitete.

Im Juli 1939 beschloss die NS-Führung geistig und psychisch behinderte Menschen in Heil- und Pflegeanstalten zu ermorden. 70'000 Menschen wurden im Rahmen des so genannten Euthanasie-Programms T4 als lebensunwert taxiert, abtransportiert und vergast. Unter den Opfern waren auch etwa 4'000 traumatisierte Veteranen des Ersten Weltkriegs.

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