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Der Archivar Es gibt Schauspieler – und es gibt Ruedi Walter

Am 16. Juni 1990 starb Ruedi Walter. Solange er lebte und spielte, waren die Theater und die Kinos voll. Das gleiche galt, wenn er im Radio die Basler Fasnacht moderierte oder mit Margrit Rainer «Spalebärg 77a» sendete. Das Wort «Strassenfeger» wurde für ihn erfunden. Ruedi Walter – ein Phänomen.

Ruedi Walter: das war über Jahrzehnte ein Garant für exorbitante Quoten, egal ob im Radio «Spalebärg» kam, im Kino «Käserei in der Vehfreude» lief oder ob er im Theater «Warte uf de Godot» spielte. Heute würde man wohl «Superstar» zu ihm sagen. Würde er es hören, dann würde er wahrscheinlich weg gucken und dann sagen: «Wenn's sii muess» oder «Gohts guet?».

Er war ein «Volksschauspieler»

Ruedi Walter «im Ausgang» (um 1971)
Legende: Ruedi Walter privat «im Ausgang» (um 1971). Keystone

Das Wort «Volksschauspieler» hat ihm irgendjemand umgehängt, er liess das jahrelang unkommentiert. Kurz vor seinem Tod kam er dann aber doch noch drauf zu sprechen. Das Wort mache ihn stolz, weil er vom Volk als einer der ihren akzeptiert werde. Das war keine Koketterie: Walter spielte nicht für die Volksseele, er kam von dort.

Das Wort Volksschauspieler hat heute einen schlechten Beigeschmack bekommen. Das klingt nach Türen-Klapp-Komödien, nach krachenden Dümmlichkeiten, nach dick aufgetragen, nach populistischem Schenkelklatschen gemäss der Devise: Dezenz ist Schwäche. Insofern ist Ruedi Walter aus heutiger Sicht kein Volksschauspieler – er ist ein sehr guter Spieler, wohl einer der grössten, den die Schweiz je hatte.

Das Wesentliche seines Handwerks

Der Schauspieler stand nie vor der Figur. Man mag das Bescheidenheit nennen. Aber eigentlich ist es Intelligenz. Sein Spiel hatte nie den Gestus: Guckt alle her, wie gut ich bin. Man sah immer erst die Figur, die er spielte und weit hinten dann den Ruedi Walter. Das ist wohl auch das Wunder seiner Wandelbarkeit.

Er war ein begnadeter Schauspielhandwerker, der seine Kunst so perfekt beherrschte, dass alles ganz leicht nach wirklichem Leben im Augenblick aussah und nie nach Kunst oder Arbeit. Man kann das an seiner ganzen Bandbreite festmachen oder an einem einzigen Ausschnitt.

«Mir mag halt niemerd öppis gunne»

In der «Kleinen Niederdorfoper» spielt er einen armen Tropf vom Land, der in Zürich ein Kalb verkauft und von allerlei lichtscheuem Gesindel ums liebe Geld gebracht wird. Irgendwann steht der Tropf dann da und singt ein Lied. Aber Ruedi Walter singt eben nicht einfach das Lied. Er singt den Sinn. Die Figur singt. Jeder Refrain schliesst mit dreimal «niemerd öppis gunne». Ruedi Walter nimmt jede Zeile neu, mit einem neuen Ton, einer neuen Haltung. Jede Zeile eine Variation. Welche Zwischentöne von Klage über die Ungerechtigkeiten des Lebens er da trifft, ist gross. Und seine Zartheit umwerfend.

Wenn die zweite Strophe beginnt, sucht er irgendetwas. Die Figur, die er da spielt, ist betrunken. Schwer betrunken. Davon merkt der Zuschauer erst mal nichts. Kerzengrade steht er da, singt glasklar. Erst, wenn er seinen Schirm ablegt, haut es ihn vor Besoffensein fast vorne über. Genau in eine musikalischen Pause gesetzt. Das ist kein Zufall, das ist Schweizer Präzisionshandwerk. Walter war ein Grossmeister des Timings. Und des Widerspruchs. Denn so sternhagelvoll er auch sein mag, dass er kaum auf zwei Beinen stehen mag, das hindert ihn Sekunden später nicht daran, sich das Streichholz am Absatz anzuzünden, lässig, beiläufig, auf einem Bein. Auch das genau in eine musikalische Pause gesetzt.

Der König der Verlierer

Und dann brennt dieses Streichholz, er singt weiter, vergisst das Streichholz, im Saal sieht's aber jeder und natürlich verbrennt er sich die Finger, nicht irgendwo, sondern genau an der Stelle, wo's vom Sinn her am meisten weh tut: Bei «niemerd öppis gunne». Genau da tut's der Figur und dem Zuschauer am meisten weh. Besser im Timing kann man wohl auch das nicht bringen. Das ist eine Glanznummer.

Ruedi Walter und Margrit Rainer
Legende: Ruedi Walter mit seiner Radio-, Bühnen- und Filmpartnerin Margrit Rainer. Keystone

Und eigentlich ist es eine tragische und komische zugleich. Geklatscht hat niemand. Stille. Es hat sich wohl niemand getraut. Ruedi Walter hat es immer wieder geschafft, dass einen seine komischen Nummern in ihrer Tragik derart ankrochen, dass man berührt war.

Er war Vieles. Auch der König der Verlierer. Und ein hoch intelligenter, hellwacher Schauspieler, der immer wusste, dass in jedem Witz eine Katastrophe steckt. Und die konnte er in Bruchteilen einer Sekunde durchscheinen lassen.

Und heute?

Wer meint, Ruedi Walter sei überholt, das sei Schnee von gestern und alter Kaffee, der irrt. Veraltet sind hie und da die Texte, ihr historischer Kontext, die Interieurs, die Themen. Seine Spielweise aber ist modern, leichtfüssig überm Abgrund. Er spielte brüchige Existenzen, Verzweifelte, Verlorene, Looser halt, Klein- und Spiessbürger, Nervensägen, Besserwisser. All das, was im wirklichen Leben niemand gerne sein möchte.

Aber Ruedi Walter spielte vor allem die Sehnsucht dieser Menschen, ihre Tagträume, ihr schlafloses Hoffen auf Glück. Entscheidend war nicht, wer sie sind, sondern was sie gerne wären. Genau an diesem Punkt hat er Generationen von Zuschauern kalt erwischt. Vielleicht war er ein Volksschauspieler. Vielleicht war er repräsentativ. Vielleicht sah es bei ihm aber einfach nie nach grosser Kunst aus sondern immer nur nach einem kleinen Leben, in dem man sich wiederfinden konnte.

Am 16. Juni 1990 ist Ruedi Walter in Basel gestorben.

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