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«Die Silberkugel» (Freitagsmagazin, 26.10.1962)
Aus Kultur Extras vom 17.09.2016.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 21 Sekunden.
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Der Archivar Mittagspause war mal, heute ist Business-Dinner und telefonieren

26. Oktober 1962. Ein Bericht des «Freitagsmagazin» über die «Silberkugel», Dernier Cri der aufkommenden Fast-Food-Kultur. Ein Meisterstück über den ganz alltäglichen Wahnsinn.

Der Beitrag des Freitagsmagazins verzichtet weitgehend auf Text und sagt doch alles über die Mittagspause. Ein ethnologisches Musikvideo über die gehetzte Spezies Mensch, montiert auf Big-Band-Jazz gegen den der «Hummelflug» von Rimski-Korsakow gelassen erscheint. 500’000 knurrende Mägen, beschleunigte Bilder von Menschen in Massen, die Essen fassen. Im Gleichschritt kauen sie uniformes Food. Schnitt.

Menschen auf Parkbänken in der Mittagssonne, einige schlafen. «Die Aussenseiter der Aktiengesellschaft», sagt der Sprecher. Schnitt.Tempus fugit.

Archivperlen

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Das Archiv von SRF ist ein fulminanter Fundus, ein audiovisuelles Gedächtnis, in Schwarz-weiss oder Farbe, analog oder digital. Wichtiges und Unwichtiges, Überholtes und allzeit Gültiges, Alltag und grosse Weltgeschichte.

Im Player von SRF sind eine Vielzahl von «Perlen», die Ihnen online zugänglich sind sowie im Archivkanal auf Youtube.

Und heute?

Fiktive Szene. Heute. 11.55 Uhr. Vor dem Bürohaus. «Haben Sie reserviert?» fragt Meier. Walser nickt. «Na Gott-sei-Dank. Dann los». Business Lunch.

Auf dem Weg noch schnell zwei Telefone. «Sorry», sagt Meier. Walser lächelt.

Im Restaurant

Gesunde Karte. Viel Ungesättigtes, Linksdrehendes, laktose- und glutenfrei, alles frei. Restaurant oder Apotheke, wo ist da der Unterschied?

Die Karte kommt geflogen, dran hängt die Bedienung. «Sanft Gegartes» liest es sich auf Seite drei. Getränke gibt es auch. Vielleicht für hinterher: Macchiato mit Reis-Milch dazu Zimt aus Burma. «Aha», murmelt Meier und schaut bis zum Horizont der gegenüberliegenden Hauswand.

Parmesan – gehobelt

Slow Food, aus der Region, von einer Cooperative, liest Meier, und geschnitztes Gemüse aus dem Steamer. Parmesan, gehobelt. Die Bedienung kommt geflogen: «Ich nehme das Slow Food aus der Region mit dem Geschnitzten und dann, Sie haben doch dieses französische Wasser, dieses ... na Sie wissen schon, das erinnert mich immer so an die Fe ...» «Ich nehme dasselbe», sagt Walser. Beide lächeln.

Das geballte Wissen aus 13 Weiterbildungen zum Thema Kommunikation sitzt unsichtbar mit am Tisch: Die Smartphones werden ausgeknipst. «Jetzt wird mal nicht telefoniert. Hier ist man Mensch, hier darf man’s sein.» Meier lacht laut über sich selbst. «Das Eis ist gebrochen», denkt sich Meier. Walser schaut stumm.

Uniforme Individualität

Draussen laufen lachend Kinder vorbei. Die Kinder verhauen sich. Bleiben stehen und drücken die Nase an die Restaurantfenster, schauen rein.

Das Restaurant hat nur Zweiertische, alle sind besetzt. Maximal drei Natelmodelle, maximal zwei Anzugmodelle, maximal ein Herrenschuhmodell. Wenn's keine Frauen gäbe ... Die Kinder laufen weg.

Das Wasser aus Frankreich

«Beim Essen geht doch vieles leichter», ruft Meier über den Tisch: «Lärmig ist es, aber so ist das Leben.» Beide nicken. Die Bedienung naht. «Noch ein Wasser, das aus Frankreich, na Sie wissen schon ...»

Der Hauptgang: «Ein Gedicht. Zart das Fleisch.» Die Kohlräbli sehen aus wie Rosen. «Der Parmesan war leider etwas zu fein.» Die Bedienung schaut betreten: «Ich gebe das weiter an den Koch.»

«Ja und, wie geht’s in Ihrer Abteilung, schaffen wir den 15.? Weil der Kunde …»

Walser: «Ja kein Problem, wobei …»

Schon steht die Bedienung wieder da und entschuldigt sich im Auftrag der Küche. «Wobei was?» fragt Meier. Walser blickt mitten hinein ins Gebinde glücklich wilder Wiesenblumen und sagt: «Ja der sollte zu schaffen sein.»

«Was heisst ‹sollte›?» fragt Meier. « Nun …», Walser druckst.

«Espresso – nur die Tasse!»

Die Bedienung steht wieder da: «Kaffee? Ist offeriert, wegen dem ...» «Espresso, schwarz, nur die Tasse!» raunzt Meier. «Ich nehme dasselbe.»

Sie geht. «Gestern wollte ich einen Kaffee für unterwegs», sagt Meier, «da bin ich in so eine Kaffeehauskette, 48 Entscheidungen für einen einzigen saudummen Kaffee. Was wollte ich sagen, ach ja. Was heisst das, ‹der 15. sollte zu schaffen sein›? Ist er zu schaffen, ja oder nein?»

Pause. Kein Auge flackert. «Ja, ist er», sagt Walser. Die Espressi kommen. «Die Rechnung. Lassen Sie mal, ich übernehme das.» Walser: «Dann ich beim nächsten Mal.»

Hinaus an die Luft

«Ah!» Noch ein paar Schritte. Meier: «Die tun gut. Das war eine tolle Idee, mal raus aus der Firma und etwas anderes sehen. Ja also dann, wir sehen uns am 15.» Handschlag. Weg.

Paar Telefone. Noch schnell die Frau. Meier: «Ja, ich bin’s, du, da habe ich doch gerade den Walser …, ja, Kollege, ist auch egal. Du, der ist ja ... gespenstisch! Muss man da was unternehmen? Personaldienst einschalten oder so? Den frisst der … Besser nicht? Stimmt, da muss man aufpassen.»

13.00 Uhr. Die Mittagspause ist vorbei.

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