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Der Krieg ist aus! «Es war, als könne der Todesdrang jedermann packen»

Ende des Zweiten Weltkriegs begingen in Deutschland Tausende von Menschen Selbstmord – oft mit der ganzen Familie. Der Historiker Florian Huber arbeitet im Buch «Kind, versprich mir, dass du dich erschiesst» ein unbekanntes Thema der deutschen Geschichte auf.

Mit seinem Buch über den Massenselbstmord in Deutschland im Jahr 1945 hat Florian Huber ins Schwarze getroffen. Mitte Februar erschienen, liegt «Kind, versprich mir, dass du dich erschiesst. Der Untergang der kleinen Leute 1945» bereits in der fünften Auflage vor. Das Interesse an diesem verschütteten Kapitel der deutschen Geschichte ist gross. Denn bisher war der Suizid Tausender Menschen nur lokal bekannt – vor allem im Osten Deutschlands, wo sich am meisten Menschen umbrachten.

Aus Furcht vor der Roten Armee in den Tod

Menschen im Schnee. Sie tragen warme Kleider. Sie sind auf der Flucht.
Legende: Viele Deutsche flohen Richtung Westen, als die Rote Armee vorrückte. Andere wählten auch den Weg des Selbstmords. BPK/Vinzenz Engel

Viel Raum widmet Florian Huber dem 15‘000-Einwohner-Städtchen Demmin in Mecklenburg. Ein Ort, der auf drei Seiten von Flüssen umschlossen und nur aus Osten trockenen Fusses erreichbar ist. Als am 30. April 1945 die Wehrmacht die Brücken über die Flüsse sprengte und kampflos abzog, waren die Bewohner von Demmin und zahlreiche Flüchtlinge aus dem Osten sich selbst überlassen.

Dann rückte die Rote Armee an. Aus Furcht gingen allein in Demmin innert weniger Tage mehrere hundert Menschen in den Tod. «Scharenweise», wie Florian Huber schreibt. «Die Selbstmörder von Demmin waren ein Querschnitt und Abbild der kleinstädtischen deutschen Gesellschaft. Es war, als könne der Todesdrang plötzlich jedermann packen.»

Zur Person

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Florian Huber wurde 1967 in Nürnberg geboren. Er studierte Geschichte und Volkswirtschaft und promovierte zur Umerziehungspolitik der britischen Besatzungsmacht in Deutschland. Florian Huber lebt in Hamburg, schreibt Drehbücher und historische Sachbücher. Seine Themen sind: DDR, Mauerfall, das Olympia-Attentat von 1972 und der 11. September 2001.

Das selbstbestimmte Sterben erfasste alle sozialen Schichten, alle Berufs- und Altersgruppen, Männer, Frauen und Kinder, Menschen aller politischer Einstellung, Stadt- und Landbewohner. Es gebe kein Muster, sagt Florian Huber, die Angst vor den Russen war allgegenwärtig. Und sie war berechtigt. Denn die Rote Armee wütete auf ihrem Siegeszug auch unter der Zivilbevölkerung grausam. Die Angst vor den Sowjets entsprang dem Wissen, was «die Deutschen» im Osten angerichtet hatten. Auch im Westen des Landes töteten sich Menschen selbst, wenn auch in geringerer Zahl.

Leere, Verzweiflung und Panik

Die NS-Propaganda, die den Deutschen eingetrichtert hatte, es gebe nur Sieg oder Tod, trug das ihre zur Endzeitstimmung bei. Die Deutschen hätten zwölf Jahre lang extreme Gefühlslagen erlebt, sagt Huber. Auch deshalb waren viele erschöpft. Als das NS-System implodierte, hinterliess es neben dem Grauen der von Deutschen verübten Verbrechen und der Zerstörung ganzer Landstriche in den Köpfen vieler Leute nur Leere, Verzweiflung und Panik. Huber beschreibt diese Endzeitstimmung:

«Die Zukunft in Deutschland ging zu Ende. Mit diesem Eindruck vollzogen die Menschen den letzten Schritt der Abkehr von der Wirklichkeit, die sie zu verschlingen drohte. Nach dem Verlöschen von Führer und Reich fürchteten sie, in der Leere zu versinken. Das Nichts wurde fühlbar.»

Das Tabu Selbstmord fiel

Alles, was der deutschen Bevölkerung in den vergangenen zwölf Jahren an Werten vermittelt worden war, löste sich schlagartig auf. Viele konnten sich ein Weiterleben in einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung nicht vorstellen.

Buchhinweis

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Florian Huber: «Kind, versprich mir, dass du dich erschiesst. Der Untergang der kleinen Leute 1945», Berlin Verlag, 2015.

Der Zusammenbruch des Wertesystems war so total, dass selbst das allen Zivilisationen in allen Zeiten eigene Tabu Selbstmord fiel. Die Menschen hätten sich 1945 fast selbstverständlich über die Möglichkeit unterhalten, Suizid zu begehen, sagt Florian Huber. Sie hätten sich darüber ausgetauscht, welche Methode die sicherste sei, wo man sich allenfalls Gift oder eine Schusswaffe besorgen könnte.

Drastischer Anstieg von Selbstmorden

Einigermassen gesicherte Fallzahlen liegen nur punktuell vor. Berlin verzeichnete allein für das Jahr 1945 insgesamt 7057 gemeldete Fälle, 3881 davon ereigneten sich im April. Im letzten Kriegsjahr verfünffachte sich die Selbstmordrate in der Hauptstadt im Vergleich zu den Vorjahren, stellt Huber fest. Im mecklenburgischen Städtchen Demmin waren es nach einer Untersuchung des Landrats 700 durch Selbstmord zu Tode gekommene Einwohner, bei einer Bevölkerung von 15‘000.

Florian Hubers Verdienst ist es, dieses weitgehend unbekannte Kapitel der deutschen Geschichte, aufgearbeitet und sprachlich meisterhaft erzählt zu haben. Er betreibt Grundlagenforschung und leistet Pionierarbeit.

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