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Literatur «Best Boy»: In der Haut des Autisten

Er war Mamas Junge – und landete trotzdem in einer Einrichtung für Hirn- und Entwicklungsgestörte. Im Roman «Best Boy» erzählt Eli Gottlieb, wie der autistische Todd die Welt wahrnimmt. Sein Autismus schottet ihn von dieser Welt nicht ab. Manche Gefahren nimmt er vor allen anderen wahr.

Sie hatte ihren ältesten Sohn Todd zärtlich geliebt, davon sind alle überzeugt und am meisten Todd selbst. Dennoch gab die Mutter ihren 13-jährigen an einem regnerischen Tag in ein Heim für Hirn- und Entwicklungsgestörte ab. Todds Leben bei der Familie war damit beendet.

Inzwischen sind 31 Jahre vergangen, und Todd kennt immer noch kein anderes Zuhause als das Heim. Er hat sich dort eingerichtet – schluckt brav seine tägliche Dosis ruhigstellender Medikamente. Bei seiner Lieblingsbetreuerin hat er einen festen Platz im Herzen.

Zwischen Hilfsarbeiten, genussvollem Essen und Rückzug in seine Welt des Musikhörens hat Todd eine Stabilität gefunden, die ihn sogar den unangenehmen Mitbewohner verkraften lässt.

Buchhinweis

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Legende: C.H. Beck Verlag

Eli Gottlieb: «Best Boy», C.H. Beck Verlag 2016.

Wenn 10'000 Volt explodieren

Aber was ist überhaupt los mit ihm? Autismus, wissenschaftlich als «Störung im Bereich der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung» bezeichnet, bedeutet bei Todd eine Unfähigkeit, mit den ganz «normalen Strapazen» des Lebens umgehen und sich und andere schützen zu können.

Möglicherweise war es sein brutal prügelnder Vater, der diese Fähigkeit beim Kind zerstört hat. Und dann waren da die sadistischen Streiche des Bruders und eine Mutter, die ihn vor all dem nicht bewahrte.

Bei Todd «explodierten dann zehntausend Volt im Kopf» und er fing an zu schreien. War die Heimunterbringung eine etwas merkwürdige «Rettung» aus der Gewalt? Ganz klar wird das nicht.

Todd schwant Böses

Als der neue Betreuer Mike Hinton ins Heim kommt, reagiert Todd extrem alarmiert. Panikgefühle steigern sich und er muss aus dem Raum gebracht werden. In seiner inneren Wahrnehmung ist der bedrohliche Vater wieder da.

Wieder ist Todd der einzige, der die Gefahr wittert. Als eine Bewohnerin Selbstmord begeht, bestätigt das Todds Ahnung. Helfen kann er nicht. Fehlt ihm doch selbst der minimale Schutz gegenüber dem Bösen.

Was ist normal?

Todd kann Menschen nicht direkt in die Augen schauen, weil es sich für ihn anfühlt, «als würden sie meine Nerven mit ihren Fingern direkt berühren.» Aber als Martine, eine neue Bewohnerin, ins Heim kommt, spürt er plötzlich verschüttete Gefühle und auch einen verschütteten Mut, sich gegen die lebenslange Ruhigstellung zu wehren.

Spätestens, als sein Bruder nach vielen Jahren Todds Besuch bei sich zu Hause ermöglicht, kehren sich in gewissen Momenten die Rollen um und Todd erscheint «normaler» als andere in dem Sinne, dass er auf die Schrecken des Lebens im Grunde höchst angemessen reagiert.

Die Erfahrung des Autors

Wenn es dem amerikanischen Autor Eli Gottlieb überzeugend gelingt, die innere Welt des übersensiblen Todd zu erzählen, hat dies möglicherweise mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun: Er hat einen autistischen Bruder, der im Heim lebt.

Für den Roman hat Gottlieb eine radikale Erzählperspektive gewählt. Er lässt Todd selbst erzählen. So schlüpft man regelrecht in seine Haut, erlebt mit ihm die krasse Dämpfung aller Gefühle und Impulse durch die Medikamente – und ein Leben mit mehr Antennen, als man überhaupt aushalten kann.

Sendung: Kultur aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 23. Februar 2016, 7.20 Uhr

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