1. «Luftschirm»
Der zweite von links ist der Autor, in Offiziersuniform. Wir schreiben Mai 1993 und in der Schweiz tobt ein Abstimmungskampf um die Frage, ob das Militär neue Abfangjäger kaufen soll. Der Bundesrat hatte erklärt, der «Luftschirm» über der Schweiz sei «löchrig».Unser tapferer Autor versuchte mit Freunden zusammen diese Aussage bildlich darzustellen und lächerlich zu machen. Das Foto erschien in der Zürcher Wochen-Zeitung WoZ als Teil eines Fotoromans: Von Bild zu Bild stieg das Wasser an, bis der Generalstab im kalten Zürichsee versunken war. Leider versenkte das Volk dann nicht die Argumente der Militärköpfe, sondern die der Armeegegner.
2. «Doktor Adolf»
Schon als Kind sperrte der spätere Bildersammler Keller seine Augen weit auf, als er mit seiner Familie unterwegs war und hoch über dem Luganersee splitterfasernackte alte Männer sah, die sich in einem eiskalten Swimmingpool tummelten. Er war ins Kurgelände des «Doktor Adolf» geraten.Das ist er: Dr. Adolf Keller-Hoerschelmann, berühmter Naturheilarzt, hier beim «Luftturnen» mit seiner Gemahlin. Er war auch ein begeisterter Nacktwanderer und hat das Sonnenbaden sehr empfohlen. Zum Glück war er auch der Götti von Stefan Kellers Vater, denn so gelangten seine äusserst erfolgreichen Bücher, die Fotos nackter Leute enthielten, in die Hände des kleinen, neugierigen Stefan.
Diese Bücher trugen Titel wie «Heilung aus eigener Kraft», «Verjüngung durch Atmung», «Krebs heilbar!», «Freue Dich gesund!», «Die Angst, das grösste Lebensgift», «Glück und Gesundheit in der Liebe».
3. «Durchstich im Lötschbergtunnel»
Stefan Keller sammelte zuerst vorwiegend Bilder, die einen Bezug zu ihm selbst, zu seiner Familie oder zum Bodenseeraum hatten, in dem er aufgewachsen ist. Später kam dann sein Interesse an der Welt der Arbeit, der Gewerkschaften, der politischen und sozialen Bewegungen hinzu.Hier sind die müden Gesichter der schweissüberströmten Arbeiter beim Tunneldurchstich des Lötschbergs zu sehen. Keller sagt: «Das Bild erschreckt mich jedes Mal, wenn ich es sehe. Sie wirken wie Gefangene – aber man muss natürlich aufpassen, dass man nichts hineininterpretiert». Mit dem Kommentar zu diesem Bild will Keller daran erinnern, dass «die Schweiz, wie wir sie kennen oder kannten, von Ausländern gebaut wurde, vor allem von Italienern». Gemeint sind hier die technischen Leistungen, die die Schweiz international berühmt machten: Die Tunnels und Flusskorrekturen.
4. «Fest der Typographen»
Hier feiern die Zürcher Typographen. Der Schweizerische Typographenbund – heute in der Syndicom – ist die älteste noch existierende Gewerkschaft auf dem europäischen Kontinent.Typographen hatten früher eine sehr kurze Lebenserwartung, weil sie zu viel Blei konsumierten. Sie waren eine Arbeiterelite und haben sich als Künstler verstanden. Keine Frau durfte ihren Beruf erlernen. Das blieb eine gewerkschaftliche Grundposition bis in die 1960er-Jahre. Aber zum Jubiläum liessen sie sich von den Frauen des Satus-Balletts gerne etwas vortanzen. Keller wirft hier einen kritischen Blick auf die Gewerkschaftsgeschichte.
5. «Fräulein Walder und ich»
Ganz rechts Fräulein Walder, daneben ihre beiden Brüder. Stefan Keller erinnert in seinen «Bildlegenden» öfter an zu wenig bekannte, beeindruckende Frauen.Als die alte, ledige Dame, «Fräulein Walder» genannt, zu den Kellers zu Besuch kam, war Stefan ungefähr so jung, wie das Fräulein Walder hier auf dem Foto – und trotzdem kann er sich noch heute an diesen Besuch erinnern. So beindruckt war er von der Besucherin. Sie wurde mit grossem Respekt in der guten Stube empfangen, nicht bloss im Esszimmer. Als Stefan Keller später ihre Biographie recherchierte, wuchs sein Respekt noch. «Fräulein Walder» war Berufsberaterin, sie sah ihre Aufgabe darin, vor allem den Bauerntöchtern klar zu machen, dass sie einen Beruf brauchen, um nicht deklassiert zu werden oder in völlige Abhängigkeit ihrer Ehemänner zu geraten.
Stefan Keller sagt, er habe die Fotos nicht nur zur Illustration von Geschichte nutzen wollen, sondern auch als historische Quellen.
Die Bilder sind ihm in der Tat Quellen: Quellen für Geschichte und Geschichten. Was er erzählt, steht in sehr unterschiedlichen Verhältnissen zu den jeweiligen Bildern.
Lebendige Geschichte
Manchmal erläutert er, was zu sehen ist, manchmal stellt er Bezüge zu sich und seiner Familie her, manchmal erzählt er Ergänzungen, bettet das Bild in historische Bezüge ein, manchmal erzählt er Gegengeschichten.
Entstanden ist so ein Geschichtsbuch, wie es lebendiger und origineller nicht sein könnte.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 3.11.2016, 8.20 Uhr.