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Ferndiagnose «Der Brexit zwingt die Menschen zum Nachdenken»

Der britische Schriftsteller Tim Parks lebt seit über 30 Jahren in Italien. Er hätte wohl gegen den Austritt gestimmt – kann aber gut leben mit dem Nein seiner Landsleute zur EU.

SRF: Tim Parks, was gefällt Ihnen an der italienischen Lebensart?

Tim Parks: (lacht) Eigentlich kenne ich gar keine andere mehr. Die Dinge, die mir an Italien gefallen, sind diejenigen, die man auch als Tourist kennt: die Cafés, Restaurants, dass es hier sehr guten Kaffee zu einem vernünftigen Preis gibt. Und das Wetter ist meistens gut. Ich bin ja quasi im Regen aufgewachsen, da ist es schön, hier ein bisschen weniger davon zu haben.

Zur Person

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Der 1954 in Manchester geborene Tim Parks, bekannt für seine Romane «Italienische Verhältnisse» und «Mimis Vermächtnis», lebt seit über 30 Jahren in Italien. Der Schriftsteller ist auch als Übersetzter tätig: Parks hat Italo Calvino ins Englische und Samuel Beckett und James Joyce ins Italienische übersetzt.

Und Mailand ist eine tolle Stadt. Man ist von hier aus schnell in den Bergen, am Wasser, am Meer. Mailand gehört ja zu den grössten italienischen Städten, ist aber im Vergleich zu London, zum Beispiel, immer noch sehr überschaubar.

Ich mag es, dass ich hier vieles zu Fuss erreichen kann. Allerdings gibt es natürlich auch Dinge, die mir weniger gefallen.

Welche Dinge mögen Sie nicht an Italien?

Ich habe zum Beispiel Mühe damit, wie ein Teil der Gesellschaft funktioniert. Nehmen Sie als Beispiel die Hierarchie an der Uni. Wenn man einen Job will, geht es weniger um die Kompetenz dafür als vielmehr um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Man muss bestimmten Personen gegenüber sehr loyal sein, und dann hat man den Job in der Tasche, auch wenn man dafür vielleicht gar nicht geeignet ist. Diese Vetternwirtschaft finde ich sehr problematisch.

Italien hat ein soziales Gefüge, das England nicht mehr hat.

Auf der anderen Seite kann sich dieser ausgeprägte Sinn für Gruppenzugehörigkeit auch positiv auswirken. Der Stellenwert der Familie ist für die Italiener sehr hoch. Dadurch hat Italien ein soziales Gefüge, das beispielsweise England nicht mehr hat.

Gibt es etwas, was Sie an England vermissen?

Es gibt viele Dinge, die ich an England sehr mag. Aber ich kann jederzeit hinfliegen – und wenn es einfach ist, zurückzukehren, dann vermisst man vieles nicht so sehr.

Aber natürlich: Ich genehmige mir gerne ein Pint, ich mag Spaziergänge in einem Londoner Park, besonders im Frühsommer, wenn das Licht so speziell ist, typisch englisches Licht eben. Und ja, die englische Küste gefällt mir sehr. Aber es ist nicht so, dass ich England schrecklich vermisse.

Buchhinweis

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In «Thomas & Mary» (Kunstmann, 2017) erzählt Tim Parks von einer 30-jährigen Ehe. Der Roman erzählt, was passiert, wenn die Gewohnheit die Leidenschaft und Hingabe ablösen. Und man sich doch damit schwer tut, die Trennung zu vollziehen.

  • «Thomas & Mary» wird am 12. Februar 2017 in der Sendung «52 Beste Bücher» auf Radio SRF 2 Kultur vorgestellt.

Die Entscheidung zu Brexit war letztes Jahr ja ein entscheidender Einschnitt in die englische Geschichte. Wie stehen Sie dazu?

Ich konnte nicht abstimmen, weil ich schon lange nicht mehr in England lebe. Und es wäre auch nicht richtig gewesen, weil ich von der Entscheidung ja nicht direkt betroffen bin.

Aber ich hätte Schwierigkeiten gehabt, mich zu entscheiden. Noch vor einiger Zeit hätte ich für die europäischen Ideale gestimmt, aber in den letzten Jahren hat man in Italien gesehen, wie katastrophal die Situation in Europa ist.

Inwiefern?

Nehmen Sie zum Beispiel den Euro, oder die italienische Wirtschaft: Sie stagniert seit 15 Jahren. 40 Prozent der jungen Leute sind arbeitslos! Das sind Zahlen, über die man nachdenken muss: Europa funktioniert nicht.

Ja, wahrscheinlich hätte ich gegen Brexit gestimmt, aber eigentlich bin ich ganz froh über die Entscheidung. Es ist ein wichtiger Schritt, der die Menschen zum Nachdenken zwingt.

Viele haben ja nicht daran geglaubt, dass es möglich ist, dass jemand nicht zur EU gehören will. Und das zeigt: es ist immer gefährlich zu glauben, man stehe auf der richtigen Seite. Man sollte immer daran denken, dass die Menschen auf der Gegenseite das Gleiche über sich denken.

Das Gespräch führte Britta Spichiger.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, 52 Beste Bücher, 12.2.2017, 11:03 Uhr

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