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Literatur Der Idiot ist lästig? Dann muss der Idiot sterben

Einen Behinderten umbringen. Gibt es einen grösseren Tabubruch? Für die Kanadierin Julie Mazzieri ist der Mord am Dorfidioten eine Ladung Dynamit. Mit «Grabrede auf einen Idioten» reisst sie die Grenzen des Kriminal- und Dorfromans ein – und zeichnet eine bildstarke Parabel für das globale Dorf.

Es beginnt mit einem Paukenschlag. Der Bürgermeister und sein Vize fahren mit dem Auto aufs Land hinaus. Auf dem Rücksitz dämmert Midas, der Dorftrottel, vor sich hin. Bei einem Brunnenschacht wird angehalten. Die beiden bugsieren den Todgeweihten aus dem Wagen und stürzen ihn kurzerhand in die Tiefe: «Sie hatten ihn … an den Beinen gepackt und wie einen Mehlsack vornüber gekippt.»

Buchhinweis

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Julie Mazzieri: «Grabrede auf einen Idioten.» Diaphanes Verlag, 2015.

Verschiesst damit Julie Mazzieri in ihrem Erstling das Pulver nicht etwas gar früh? Was für die klassische Novelle gut ist, das unerhörte Ereignis, dient auch hier der Dramaturgie. Es stellt sich nämlich heraus, dass der fulminante Auftakt das Treibmittel für diesen ätzenden Dorfroman ist. Die Frage, ob da noch jemand zur Rechenschaft gezogen wird, bleibt nämlich bis am Ende offen.

Kein Krimi und doch einer

Nicht weniger als drei Leichen bleiben liegen. Neben dem Dorftrottel ist es eine junge Frau sowie Paul, der Knecht von auswärts – der Aussenseiter, der von den Dörflern in die Nachfolgerrolle des ermordeten Idioten gedrängt wird. Aber es gibt keinerlei Aufklärung und Polizeieinsatz in dieser Parabel von dürrenmattscher Düsterkeit. Die Verbrechen bleiben in ihrem Urzustand, wobei dies niemanden zu kümmern scheint.

Am skrupulösesten zeigt sich der Vizebürgermeister, der im Gespräch mit dem Pfarrer haarscharf an einem Geständnis vorbeischrammt. Andere, wie der Bürgermeister, verdrängen ihre Schuld ohne Kollateralschaden. Wo es Tatmotive gibt, sind sie unsäglich lächerlich. Im Falle Midas' nahm der Bürgermeister Anstoss daran, dass der Dorfidiot die Regeln des bürgerlichen Anstands hin und wieder vernachlässigte. Er pinkelte beispielsweise an die Tür der Mairie.

Mazzieri bürstet das Genre Kriminalroman so gegen den Strich, dass die Schattenseiten einer Gesellschaft zum Vorschein kommen – und zwar viel besser, als wenn mehr Kriminaltechnik und Schuldfragen im Spiel wären.

Misstrauen, Bigotterie, Missgunst

Galliges Misstrauen, schiere Bigotterie, klägliche Missgunst – diese Troika sorgt dafür, dass das Dorf, das überall stehen könnte, nicht so etwas wie eine passable Gesellschaft ist. «Chester» ist sich selbst unheimlich. Gerücht um Gerücht macht die Runde. Gestreut von jenen, die, wie die beiden Gemeindepolitiker, als Saubermänner getarnte Schurken zu Gange sind. Der Verdacht ist der alleinige Kitt dieser Gesellschaft. Kommt hinzu, dass nicht einmal die Mutter des Ermordeten argwöhnisch wäre. Sie glaubt unverbrüchlich an die Rückkehr ihres Sohnes.

Nicht nur die Menschen sind schwach. Auch die Tiere sind angeschlagen und unberechenbar. Alle haben Schuldgefühle. Niemand ist schuldig. Die Unordnung ist die eigentliche Ordnung. Am unverschämtesten ist der Bürgermeister. Er hofft, dass man die Schuld für seinen Mord dem toten Dorftrottel in die Schuhe schiebt.

So wird mit Gerüchtebildung und Propaganda eine Perversion von Politik inszeniert. Wie früher die Juden systematisch ausgegrenzt wurden, werden hier der Behinderte und der Aussenseiter erst an den Rand der Dorfgemeinschaft und dann in den Wahnsinn gedrängt.

Parabel für das globale Dorf

«Grabrede für einen Idioten» ist ein enorm bildstarkes Gleichnis für die Funktion des globalen Dorfs. Für den Zustand «der Welt» an und für sich. Die sozialen Mechanismen funktionieren im kleinen, archetypischen Dorf ebenso wie im grossen Massstab. So verstört und bodenlos schlecht sind Menschen aller Couleur – auf dem Land wie in Städten.

Mazzieri erzählt teilweise dieselben Episoden aus verschiedenen Perspektiven. Dies verstärkt die Stimmungen, macht sie insgesamt nachhaltiger. Dabei verrät sie aber nur das absolute Minimum, sodass viel Raum entsteht für das Atmosphärische. Dieses ist ganz anschaulich. Wie an der Stelle, an der Paul einen Strassenköter zu Tode tritt – in dieser Episode steckt der ganze Roman im Kleinformat. Er ist schlicht erstklassig.

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