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Grosse Literatur Der neue Jonathan Safran Foer: Extrem lang und unglaublich gut

Jonathan Safran Foer wurde mit «Alles ist erleuchtet» und «Extrem laut und unglaublich nah» international zum Star. Jetzt legt der Amerikaner seinen dritten Roman «Hier bin ich» vor: ein begeisterndes Bekenntnis zum Leben.

«Hier bin ich» ist ein grossartiger existentialistischer Roman, der das Wesentliche verhandelt: Mensch zu sein. Ein 700 Seiten starkes Buch über das Leben eines amerikanischen Ehepaars in Washington D.C., dessen Ehe in der Krise steckt.

Jonathan Safran Foer

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Der 1977 in Washington geborene Schriftsteller Jonathan Safran Foer studierte in Princeton Philosophie und Literatur. Mit seinen Romanen «Alles ist erleuchtet» und «Extrem laut und unglaublich nah» wurde er international bekannt.

Doch nicht das Thema Ehekrise macht das Buch lesenswert. Sondern der ganze Mikrokosmos einer jüdischen Familie, den Jonathan Safran Foer minutiös entwirft.

Straffe Zügel

Die Hauptfigur ist Jacob. Er schreibt für den TV-Sender HBO Drehbücher für Fernsehserien und betrügt seine Frau Julia mit pornographischen SMS an eine Arbeitskollegin. Von seiner Frau fühlt er sich schon länger nicht mehr begehrt.

Julia hingegen setzt alles daran, in die Hosen zu steigen. Sie organisiert und kontrolliert das Leben ihres Mannes, ihrer drei Söhne und zieht die Zügel an, wenn ihre Pferdchen durchzugehen drohen.

Der Sohn weiss es schon

Besonders der älteste Sohn Sam macht im Moment grosse Probleme. Er ist 13 Jahre alt und in technischen Dingen bewandert. Er hat das geheime Handy seines Vaters längst geknackt und weiss sowohl von dessen obszönen SMS als auch von Julias Scheidungsplänen.

Um Dampf abzulassen, provoziert er in der Schule den Rabbi mit dem verbotenen Wort «Nazi» und anderen rassistischen Ausdrücken. Das zeigt Wirkung: Nicht nur seine Bar Mitzwa steht auf dem Spiel. Er läuft auch Gefahr, von der Schule zu fliegen.

Ein Umstand, der seinen Eltern gehörig auf dem Magen liegt. Besonders für Julia bedeutet die religiöse Mündigkeit ihres Sohnes alles. Für sie ist das Ritual, sozusagen die letzte Bastion familiären Zusammenhalts.

Krieg in Israel

So sieht das auch der Urgrossvater. Er ist um die 90 und hat den Holocaust überlebt: ein Mann mit Prinzipien, der lieber stirbt, als in eine Seniorenresidenz umzuziehen. Einzig die bevorstehende Feier hält ihn am Leben.

Doch Urgrossvater Isaak stirbt frühzeitig. Die Verwandten aus Israel, die zur Bar Mitzwa angereist sind, können gleich an seiner Beerdigung teilnehmen.

Zeitgleich destabilisiert ein Jahrhundert-Erdbeben den ganzen Nahen Osten. Und in Israel bricht Krieg aus.

Harmlose Abfolge

Eine unglaubliche Geschichte: erschütternd, komisch, tief traurig. Sie beginnt ausgerechnet an jenem Morgen, an dem Jacob und Julia wegen Sams «N-Wort» vor den Rabbi zitiert werden:

«Alle glücklichen Morgen gleichen einander, wie auch alle unglücklichen Morgen, und dass sie so furchtbar unglücklich sind, hat folgende Ursache: Das Gefühl, dass man ein solches Unglück schon einmal erlebt hat, dass alle Bemühungen, ihm vorzubeugen, das Gegenteil bewirken oder die Sache sogar noch verschlimmern, dass sich das Universum aus irgendeinem rätselhaften, überflüssigen, unfairen Grund gegen die harmlose Abfolge von Kleidern, Frühstück, Zähnen und nervigen Haarwirbeln, Rucksäcken, Schuhen, Jacken und Abschieden verschworen hat.»

Buchhinweis

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Jonathan Safran Foer: «Hier bin ich», Kiwi-Verlag, 2016.

Unglaublich, aber glaubwürdig

Jonathan Safran Foers Romanfiguren haben keine Wahl. Die Aneinanderreihung von unglücklichen Umständen ist zwar unglaublich, sie wirkt aber nicht übertrieben.

Sie zwingt Jacob und Julia dazu, in ihre seelischen Abgründe zu blicken und ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Sie erkennen, dass der Familien- und Berufsalltag sie aufgefressen hat. Dass das äussere Leben grösser als ihr inneres geworden ist.

Erst Mensch sein

In ungemein scharfsinnigen Dialogen verhandelt Jonathan Safran Foer die Frage, was uns Mensch sein lässt. Erst Mensch sein, so sein Appell, dann Mann oder Frau, Mutter oder Vater, Jude oder Jüdin.

Nur wer sich erkennt, wer die Kluft auszuhalten weiss, zwischen dem, was er sich vom Leben erhofft und dem, was ist, kann letztlich glücklich werden. Davon handelt Jonathan Safran Foers weiser Familienroman.

Es ist ein selbstkritisches Buch, in dem sich der Autor mit dem Glaubenssatz «Hier bin ich» zu erkennen gibt. Und uns Lesern schonungslos den Spiegel vorhält.

Sendung: Radio SRF 1, Buchzeichen, 4.12.2016, 14:06 Uhr.

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