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Literatur Die schöne, neue Satire-Welt von Eugen Ruge

Nach «In Zeiten des abnehmenden Lichts» setzt Autor Eugen Ruge seinen Familienepos fort. Diesmal geht es nicht um Vergangenes, sondern um die Zukunft. Er zeigt eine Welt, in der Realität ist, was heute entsteht. Eine satirische Zukunftsvision, die davon lebt, dass die Zukunft längst begonnen hat.

Es ist der 1. September 2055. Nio Schulz erwacht in seinem Hotelzimmer in China. Draussen ist es dunkel. Wäre es hell, sähe er den künstlichen Himmel über der Stadt. Der künstliche Himmel ist eine Computeranimation. Doch die sieht er nicht. Es ist mitten in der Nacht. Und Nio Schulz kämpft mit dem Jetlag.

Nio Schulz ist Geschäftsreisender. Er verkauft «True Barefoot Running», wahres Barfusslaufen. Das ist typisch für die postpostmaterielle Welt, denn dort geht es nicht mehr ums Konkrete. Dort geht es um Dinge wie Identitäten oder Zugehörigkeiten. Ja: Nio Schulz verkauft Zugehörigkeiten – die zum exklusiven Klub der Barfussläufer zum Beispiel.

Ein Porträt von Eugen Ruge.
Legende: Schriftsteller Eugen Ruge gewann 2011 den Deutschen Buchpreis für «In Zeiten des abnehmenden Lichts». Frank Zauritz

Selbsthilfegruppe in der Steve-Jobs-Schule

Doch es gibt noch andere Gründe fürs frühe Erwachen. Nio Schulz sorgt sich. Er sorgt sich um seine Stellung in der Firma, in der er als 39-Jähriger bereits zum alten Eisen gehört. Er sorgt sich um seine Zukunft als Vater, denn die Frau, die er datet («Freundin» wäre ein zu grosses Wort dafür) will ein Kind.

Was die obligate ukrainische Leihmutter kostet und der exklusive nepalesische Spender, das weiss Nio Schulz. Er wäre nicht der erste, der sich für einen Kinderwunsch verschuldet.

Und: Nio Schulz sorgt sich auch über sich, denn er ist das, was man in dieser Welt besser nicht ist: weiss, männlich und hetero. Darum besucht er auch eine Selbsthilfegruppe. Anonym. Jeden Dienstagabend in der Steve-Jobs-Schule in Berlin.

Eine reichlich vertraute Zukunftsvision

Schriftsteller Eugen Ruge erfindet keine neue Welt. Er nimmt nur das, was es schon gibt und macht es grösser. So erschafft er eine absurde, mitunter lustige aber reichlich vertraute Zukunftsvision.

Eine Satire, deren Ingredienzen bekannt sind: die politische Korrektheit, die immer totalitärere Formen annimmt. Die Digitalisierung, die zur völligen Kontrolle über die Menschen führt. Die Umweltzerstörung, die nur noch mit drastischen Massnahmen wie mehr oder weniger kontrollierten Wasserstoffbombenabwürfen über Australien bekämpft werden kann, und die immer extremer werdende Vermarktung sämtlicher Bereiche des Lebens bis hin zum Barfusslaufen.

Ein fiktiver Enkel

Mitten hinein in diese schöne, neue Satire-Welt setzt Eugen Ruge seinen fiktiven Enkel. Nio Schulz ist niemand anderes als der Enkel von Eugen Ruges Alter Ego Alexander Umnitzer aus dem Roman «In Zeiten des abnehmenden Lichts», mit dem Eugen Ruge 2011 den deutschen Buchpreis gewann.

Gezeigt wird dieser Enkel an seinem 39. Geburtstag für ein paar Stunden. Zwischen dem Erwachen im Hotel durch Jetlag und Sorgen und dem Termin mit chinesischen Geschäftsleuten, die sich fürs wahre Barfusslaufen interessieren.

Gedankenstrom aus 14 Sätzen

Aber so überzeugend die Zukunftsvision inhaltlich ist, ihre Stärke liegt im Formalen. Hauptsächlich in der Sprache. Denn Eugen Ruge wählt für seine Geschichte einen Gedankenstrom, der aus nur 14 Sätzen besteht. 14 Sätze in 14 Kapiteln. Damit schafft er einen Sog, dem man sich beim Lesen nicht mehr entziehen kann.

Eine Vorgeschichte von Milliarden Jahren

Ergänzt wird dieser Strom von zwei zusätzlichen Ebenen. Die eine ist die, die Eugen Ruge «Stasi-Ebene» nennt. Gesammelte Akten, die die Figuren nochmals von einer anderen Seite zeigen. Die andere ist ein dazwischengeschobenes Kapitel von 50 Seiten, die die ganze Vorgeschichte beschreibt. Und das ist wörtlich zu verstehen, denn gezeigt wird die Vorgeschichte vom Urknall bis zu Nio Schulz‘ Zeugung 14 Milliarden Jahre später.

Da kommt der Naturwissenschaftler zum Zug, der Eugen Ruge von Haus aus ist und der all diese Vorgänge tatsächlich auch beschreiben kann. Und da kommt der Schriftsteller zum Zug, der seinen ersten Roman nochmals auf zwei Seiten erzählt.

Ruge weiss wovon er redet

Buchhinweis

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Eugen Ruge: «Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel». Rowohlt, 2016.

Das Buch braucht diese zusätzlichen Ebenen, erhöhen sie es doch von einer gefälligen Gesellschaftssatire zu einem bedeutenden Stück Literatur. Ganz generell ist zu sagen, dass Eugen Ruge mit «Follower» ein relevantes Buch geschrieben hat. Nicht eines über eine ferne Zukunft, über die sich sowieso nichts sagen lässt, sondern eines über unsere Welt und unsere Gesellschaft.

Ein radikales Buch, das die fliessenden Grenzen zum Totalitären aufzeigt. Eugen Ruge, der ehemalige DDR-Bürger und -Flüchtling, weiss ja, wovon er da redet. Und formal ist er ohnehin auf der Höhe seines Könnens.

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