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Dystopien in der Literatur
Aus Kultur Webvideos vom 29.05.2019.
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Düstere Zukunftsromane Morgen ist der Mensch versklavt und die Welt am Ende

Klimakollaps, Überwachung, Kriege: Dystopien liegen im Trend. Warum lesen wir gerade heute gerne Bücher über eine finstere Zukunft?

Was ist, wenn die Welt vor die Hunde geht? Wenn alles darnieder liegt – unsere Gesellschaft, die Demokratie, die Menschenrechte, die Natur, der Planet?

Diese Fragen beschäftigen die aktuelle Literatur in verstärktem Mass. Dystopische Romane, welche die Zukunft der Menschheit in den düstersten Farben ausmalen, liegen im Trend.

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Dystopie
aus 100 Sekunden Wissen vom 06.06.2014. Bild: Flickr/JeepersMedia
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Die Französin Marie Darrieussecq, der Brite John Lanchester oder die deutschsprachigen Julia von Lucadou, Heinz Helle und Sibylle Berg sind nur einige der Autorinnen und Autoren, die in letzter Zeit mit dystopischen Romanen von sich reden machten.

Klimakollaps, Überwachung, Weltkrieg

Ein Motiv, das gegenwärtig in der Politik für Schlagzeilen sorgt, ist häufig anzutreffen: der Klimawandel. Die Meeresspiegel sind massiv gestiegen und die Kontinente in den Fluten versunken. An den wenigen Stellen, wo noch Landmassen und menschliche Gesellschaften übriggeblieben sind, herrschen drakonische Führer über Sklavenherden.

Auch eine andere gesellschaftliche Diskussion spiegelt sich in den fiktionalen Werken: Welten, in denen die künstliche Intelligenz übermächtig geworden ist. Es herrscht rabenschwarze Dunkelheit: Einmal werden die Menschen total überwacht – durch in die Hand implantierte Chips. Ein anderes Mal herrschen Roboter statt Menschen.

In einer dritten Variante werden selbst Maschinen mit Armen und Beinen überflüssig: Hier sitzen Algorithmen an den Schalthebeln der Macht und dirigieren die Menschen per App. Ihr Leben ist an Tristesse nicht zu überbieten.

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«Die Mauer» von John Lanchester
aus 52 beste Bücher vom 10.03.2019. Bild: © Marijan Murat
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Wenn nicht Maschinen das Ende der Menschheit herbeiführen, dann sind es die Menschen selbst. Nach Kriegen oder anderen Globalkatastrophen ist die Welt durch und durch kaputt. Zivilisatorische Werte haben sich verflüchtigt: Es gilt das Recht des Stärkeren.

Identität stiften

Dystopien haben verschiedene Gemeinsamkeiten. Eine davon: Die Romane zielen allesamt direkt auf unsere Gefühle. Die düsteren Beschreibungen lösen Gruseln aus. Manchmal auch Entsetzen. Und bisweilen eine Schockstarre, die weit über die Lektüre hinaus nachwirkt.

Die Faszination dystopischer Romane ist vergleichbar mit derjenigen von Katastrophenfilmen, in denen alles zu Bruch geht. Nicht nur Materielles wird zerstört, auch Werte wie die Menschenwürde, der Glaube an das Gute und die Freiheit, das höchste Gut des Menschen.

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Über Sibylle Bergs «GRM»
aus Kultur-Aktualität vom 11.04.2019. Bild: Keystone / JENS KALAENE
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Die Freiheit wird in praktisch allen Dystopien pulverisiert. Umso grösser ist nach der Lektüre die Erleichterung, wenn man sich das Hier und Jetzt vergegenwärtigt, das noch einigermassen intakt ist.

Zwar sind in den westlichen Gesellschaften Grundrechte wie etwa der Schutz der Privatsphäre massiv unter Druck. Aber – Gott sei Dank! – noch sind wir nicht so weit wie in diesen Romanen. Noch ist der Mensch nicht vollkommen gläsern und entmachtet.

Dystopien ermöglichen es, sich seiner selbst zu vergewissern. Und dies in einer Welt wie unserer, die von Verunsicherung und Zukunftsängsten geprägt ist. Auch dies erklärt den Boom der dunklen Zukunftsromane.

Die Erzählung vom Ende

Hinzu kommt, dass Dystopien aktuelle Megaprobleme in anschauliche Geschichten packen. Etwa den Klimawandel.

Oft fehlt uns schlicht die Vorstellung, was auf die Menschheit konkret zukommt, wenn die Entwicklung wie bisher ungebremst voranschreitet. Eine Lösung kennt derzeit niemand. Wir wissen lediglich, dass etwas geschehen muss, wenn die Menschheit überleben will.

In diese Lücke springen literarische Dystopien. Sie vermitteln eine Erzählung dessen, was noch nicht ist, was jedoch sein könnte.

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«Die Hochhausspringerin» von Julia von Lucadou
aus 52 beste Bücher vom 07.10.2018. Bild: Christian Werner
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Dystopien spinnen den Faden weiter, denken bis zum bitteren Ende, vermitteln uns eine Vorstellung, öffnen uns die Augen. Sie spornen uns vielleicht dazu an, aktiv zu werden, um zu verhindern, dass die Entwicklung ihre schlimmstmögliche Wendung nimmt.

In Dystopien steckt immer auch eine Portion Kritik an der gegenwärtigen Politik, die keine Antworten findet auf die grossen Herausforderungen unserer Zeit.

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«Unser Leben in den Wäldern» von Marie Darrieussecq
aus Kontext vom 30.01.2019. Bild: imago / StockTrek Images
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Dies war schon bei den klassischen Dystopien von Jevgenij Zamjatin («Wir»), Aldous Huxley («Schöne neue Welt») oder George Orwell («1984») so. Sie stellten mit ihren Werken die Diktaturen ihrer Zeit und die damit verbundene Entmenschlichung an den Pranger.

Die Sehnsucht nach dem Echten

Die Beliebtheit der Dystopien rührt auch daher, dass sie der weit verbreiteten Sehnsucht nach «Echtem» entsprechen. Und dies paradoxerweise, obwohl sich dieses Genre wie kaum ein anderes der fantasievollen Ausgestaltung der Wirklichkeit bedient.

Im Zeitalter von lügenden Politikern und Fake News gedeiht der Wunsch nach «Unverfälschtem». Das erfüllen Dystopien auf ihre Weise.

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«Hysteria» von Eckhart Nickel
aus 52 beste Bücher vom 20.01.2019. Bild: © Jork Weismann
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Sie zeigen Welten, in denen die uns bekannten gesellschaftlichen Systeme aufgehört haben zu existieren. Die kulturellen Errungenschaften und selbstverständliche Werte sind erodiert.

Auch das trägt zum Erfolg der Dystopien bei Leserinnen und Lesern bei. Dystopien stellen die uralte Frage, die uns alle betrifft und beschäftigt: Wer sind wir wirklich? Was bleibt, wenn alle Hüllen der Zivilisation wegbrechen? Es ist die Frage nach dem existenziellen Kern des Menschen.

«Dystopien machen uns kritikfähig»

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Legende: Franz Schultheis

Es ist kein Zufall, dass dystopische Romane gegenwärtig boomen. Das sagt der Soziologe Franz Schultheis. Er ist Professor an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

SRF: Was sagt der Boom dystopischer Romane über unsere Gesellschaft aus?

Franz Schultheis: Er ist ein Symptom für die kollektive Verunsicherung beim Blick in die Zukunft. Das Spektrum der Unwägbarkeiten ist breit: Es reicht von der ökologischen Krise bis zur weltpolitischen Lage, die als instabil empfunden wird.

Verstärkend wirkt die Vorstellung, dass die bisherigen Nationalstaaten mit ihren politischen Sicherungssystemen nicht mehr in der Lage sind, weltumspannende Entwicklungen wie die Globalisierung zu kontrollieren.

Können dystopische Romane helfen, die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen?

Zweifelsohne schärfen Dystopien das Bewusstsein für Bedrohungen der Zukunft, die oft als diffus wahrgenommen werden. Sie verstärken dadurch die Fähigkeit der Menschen, die Entwicklungen kritisch zu hinterfragen.

Der Roman «Der Circle» des US-Amerikaners Dave Eggers beispielsweise bringt unseren oft naiven Umgang mit unseren Daten und der Digitalisierung aufs Tapet und schärft unser Problembewusstsein. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass wir es schaffen, Entwicklungen mit politischen Mitteln in gesunde Bahnen zu lenken.

Gab es in der Vergangenheit Dystopien, die eine konkrete gesellschaftliche oder politische Veränderung bewirkten?

Dies ist im Einzelfall schwierig nachzuweisen, da die Literatur sehr langsam wirkt. Hinzu kommt, dass sie zwar den Zeitgeist beeinflusst, andererseits aber auch von ihm geprägt wird.

Literatur ist lediglich ein Teil des Spiegels, in dem sich Veränderungsprozesse abbilden. Ebenso wichtig sind die Medien.

Sicher aber hat im vergangenen Jahrhundert der Roman «Farm der Tiere» von George Orwell langfristig massiv zur Entzauberung des Kommunismus beigetragen. Das Buch machte die Menschen kritikfähiger gegenüber totalitären Tendenzen.

Welcher dystopische Roman hat sich Ihnen persönlich besonders eingeprägt?

Orwells «1984». Der Roman schildert auf packende Weise, wohin wir kommen, wenn man die Gesellschaft totalitär umgestaltet. Orwell macht das Verhalten des einzelnen Menschen in einem solchen System plastisch nachvollziehbar - wie man als Individuum von einem derartigen Regime betroffen ist, aber auch, wie man seinerseits Teil von ihm wird, ohne dass man dies will.

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