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Literatur Ein Buch zum Weglegen: Der neue Roman von Harper Lee

Das zweite Buch der amerikanischen Schriftstellerin Harper Lee wurde als die literarische Sensation des Sommers 2015 angepriesen. Doch «Gehe hin, stelle einen Wächter» ist im Vergleich zum Klassiker «Wer die Nachtigall stört» eine Enttäuschung.

«Gehe hin, stelle einen Wächter» ist quasi die Fortsetzung von Lees erstem Roman «Wer die Nachtigall stört» – im Original «To Kill a Mockingbird». Sprechen wir also zuerst kurz über das erste Buch. Lee hat es 1960 geschrieben, und bis heute gilt es mit seinem Zauber, seinem Tiefgang und seinem Humor als Klassiker in der amerikanischen Literatur.

Atticus – der Vorzeigeamerikaner

In «Wer die Nachtigall stört» erzählt die achtjährige Scout von ihrer Kindheit und von ihrem Vater, dem Anwalt Atticus Finch. Als Weisser verteidigt er im amerikanischen Süden der 1930er-Jahre einen schwarzen Landarbeiter, der ein weisses Mädchen vergewaltigt haben soll. Mit seiner aufrechten Haltung und seinem leidenschaftlichen, unbeirrbaren Kampf für die Gerechtigkeit und die Gleichheit aller Menschen – unabhängig von ihrer Hautfarbe – gilt Atticus als Vorbild, als Vorzeigeamerikaner schlechthin.

Kein Vergleich mit «Wer die Nachtigall stört»

Buchhinweis

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Harper Lee: «Gehe hin, stelle einen Wächter», DVA, 2015.

Dieses Bild wird nun im neuen Buch zerstört. Die Geschichte spielt zwanzig Jahre später, und die mittlerweile erwachsene Scout stellt schockiert fest, dass ihr Vater zum Rassisten geworden ist. Er hat sich einer Bürgerratsbewegung angeschlossen, die sich gegen die afro-amerikanische Bevölkerung stellt. Nichts ist mehr so, wie Scout – und damit auch die LeserInnen von «Wer die Nachtigall stört» – es gekannt haben. Ein amerikanischer Kritiker hat es treffend ausgedrückt: Wenn man «Gehe hin, stelle einen Wächter» liest, ist es ein bisschen so, wie wenn man erfährt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.

Warum die Wendung?

Das ist schade – und unnötig. Denn eigentlich ist «Gehe hin, stelle einen Wächter» kein zweiter Roman von Harper Lee. Obwohl die Handlung später spielt, ist es ein erster Entwurf von «Wer die Nachtigall stört». Und das merkt man bei der Lektüre bald. Unvermittelte Szenenwechsel, oft nur skizzierte Szenen, Wechsel der Erzählperspektive, seitenlange historische Abhandlungen, die nur indirekt mit der Geschichte zu tun haben: welch ein Gegensatz zu den wunderbaren, emotionalen Momenten in «Wer die Nachtigall stört», dem feinen Humor, den berührenden, eindringlichen Schilderungen des Lebens im amerikanischen Süden der 1930er-Jahre.

Wie gut, riet der Lektor Lee damals, die Geschichte von «Gehe hin, stelle einen Wächter» zu überarbeiten und sie neu aus der Perspektive der achtjährigen Scout zu erzählen. Daraus sind «Wer die Nachtigall stört» und damit auch ein anderer Atticus Finch entstanden. Wenn man sich das vor Augen hält, ist «Gehe hin, stelle einen Wächter» eigentlich nichts anderes als Sekundärliteratur. Und das heisst: Den Weihnachtsmann gibt es vielleicht doch.

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