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US-Autor im Gespräch «Meine Romanfiguren haben im Leben nie Glück gehabt»

Der amerikanische Schriftsteller Richard Russo ist bekannt für seine umfangreichen Werke und verschrobenen Charaktere. In seinen Geschichten will er dem «kleinen Leben» mehr Gewicht geben.

SRF: Richard Russo, gibt es für Sie spezifische Themen, die Sie in Ihren Büchern besprechen wollen?

Richard Russo: Nein, ich denke sehr selten über bestimmte Themen nach. Ich war ja lange Professor für Literatur – und in der Zusammenarbeit mit den Studentinnen und Studenten befasst man sich natürlich mit einem spezifischen Thema. Aber das ist nur eine mögliche Vorgehensweise.

Beim Schreiben denke ich nur an die Charaktere.

Zur Person

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Richard Russo wurde 1949 in Johnstown, New York geboren. Bevor er 1986 seinen ersten Roman publizierte, war er Literaturdozent.

«Empire Falls» ist der erfolgreichste seiner Romane und wurde 2002 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Buch wurde mit einer Starbesetzung mit Paul Newman, Joanne Woodward und Philip Seymour Hoffman verfilmt.

Wenn ich schreibe, denke ich nur an die Charaktere. Normalerweise arbeite ich vier, fünf Jahre an einem Buch – und deshalb ist es mir vor allem wichtig, dass die Figuren interessant bleiben. In meinen Romanen mag ich Langweiler genauso wenig wie im richtigen Leben (lacht).

Am Anfang gibt es bei meinen Figuren immer etwas, das mich neugierig macht. Aber dann lasse ich ihren Geschichten freien Lauf – und oft nehmen sie dann ein auch für mich überraschendes Ende. Erst dann weiss ich, worüber ich geschrieben habe.

Ihre Romane beginnen ja meistens damit, dass eine Figur sich in einer dramatischen Situation wiederfindet ...

Nehmen Sie zum Beispiel meinen früheren Roman «Ein grundzufriedener Mann». Da verletzt sich die Hauptfigur Sully gleich zu Beginn am Knie. Er ist Bauarbeiter und kann nicht mehr arbeiten. Aber er kennt nichts anderes als seine Arbeit. Was macht er jetzt, wie verhält er sich? Diese Frage hat mich sehr interessiert.

Oder in meinem neuen Roman «Ein Mann der Tat» geht es um Raymer, den Polizeichef einer amerikanischen Kleinstadt. Er ist voller Minderwertigkeitskomplexe. Gleich zu Beginn der Geschichte passiert ihm noch dazu etwas Peinliches: Bei einer Beerdigung fällt er ins offene Grab. Was muss er tun, um sein Selbstbewusstsein herzustellen? Mit solchen Fragen setze ich mich gerne auseinander.

Sie beschreiben oft auch sehr komische Szenen, bei denen man, wenn man sie liest, laut lachen muss. Aber Sie machen sich nie lustig über die Figuren. Stets behalten sie ihre Würde. Wie machen Sie das?

Die Leute, über die ich schreibe, haben im Leben niemals Glück gehabt – sie sind irgendwo steckengeblieben. Sie haben nichts, das ihnen aus ihrer schwierigen Situation heraushelfen könnte, keine Ausbildung, kein Geld, nichts.

Buchhinweis

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Richard Russo: «Ein Mann der Tat», DuMont 2017

Dann denkt man «Oh! Würde ich in einer solchen Situation nicht einfach aufgeben?» Aber nein, die Figuren tun es nicht, machen weiter. Auch, wenn sie noch so verzweifelt sind. Und dieses Verhalten verleiht ihnen Würde.

Ich mag meine Figuren. Weil sie uns allen ähnlich sind. Wie oft machen wir uns lächerlich, versuchen aber, es zu vertuschen? (lacht)

Hat es einen bestimmten Grund, dass in Ihren Romanen immer ein Mann die Hauptfigur ist? Ausserdem sind die Männer stets in der Überzahl ...

Das hat mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Mein Vater hat unsere Familie früh verlassen, und ich hatte nie ein Vorbild. Als ich dann später selber Vater wurde, hat mich das zuerst gestresst. Weil ich gar nicht genau wusste, wie sich ein Vater überhaupt verhält, was von ihm verlangt wird.

Ich war dann so froh, als wir zwei Töchter bekamen (lacht schallend). Über Jungs sollte ein Vater irgendwie alles wissen – aber bei den Mädchen war es vor allem wichtig, sie zu lieben und zu beschützen, nicht wahr?

Im Ernst: Diese Frage, was einen Mann ausmacht, was von ihm erwartet wird – das beschäftigt mich immer noch.

Ihre Romane sind stets mehrere hundert Seiten lang, sehr viele Figuren treten auf. Weshalb?

Ich bin der Überzeugung, dass es keine kleinen Leben gibt. Das hat mir schon immer an Charles Dickens gefallen: Wie er auch scheinbar weniger zentrale Charaktere beschreibt und man erst gegen Ende der Geschichte realisiert, wie sehr er in ihr Inneres vorgedrungen ist. Und dem wollte ich nachstreben.

Und dann kommt noch hinzu: Es gibt Schriftsteller, die in die Tiefe denken. Sie stellen zwei bis drei Figuren ins Zentrum und erkunden alles, was mit ihnen in Zusammenhang steht. Das ist absolut legitim. Ich denke mehr in die Breite. Sobald ich eine Figur sehe, sehe ich auch ihre Eltern, ihre Familie, ihre Lehrer, ihre Freunde, und so weiter. Denn all diese Menschen formen uns und machen uns erst zu demjenigen, der wir sind.

Das Gespräch führte Britta Spichiger.

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