Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Literatur Robert Gernhardt – der Meister der Vollendung

Als Dichter und Satiriker hat Robert Gernhardt Massstäbe gesetzt, die bis heute verbindlich sind – und er hat das komische Gedicht salonfähig gemacht. Am 30. Juni vor zehn Jahren verstarb er. Eine Würdigung zu seinem Todestag.

Eckard Henscheid, der andere Grosse aus der Neuen Frankfurter Schule, ist pessimistisch. In einem Artikel, der dieser Tage in der Satirezeitschrift «Titanic» erscheinen wird, beklagt er, dass wir heute wieder am Punkt sind, an dem wir 1955 gewesen sind. In der Lyrik, in der kaum jemand dem Beispiel Gernhardts gefolgt ist, wie in den Medien. Niemand würde heute einem Satiriker wie Gernhardt oder einer Gruppe wie Gernhardts Neuen Frankfurter Schule eine Chance geben. In Zeiten der völligen Kontrolle finden Freigeister keinen Platz.

Nonsense und Hochkultur: Ein Blick zurück

Dabei hat alles mal so hoffnungsvoll angefangen: Eine Gruppe von überdurchschnittlich begabten Leuten – die meisten Künstler und Akademiker – arbeitet bei einer Frankfurter Satirezeitschrift. Zuerst bei «Pardon», dann bei «Titanic». Sie zeichnen Comics, verfassen Bildergeschichten und schreiben Gedichte. Elchkritik und Kragenbär-Masturbation sind dabei genauso Thema wie Adornos kritische Theorie. Sie mischen munter Hochkultur und Nonsens und erreichen damit ein kleines aber feines Publikum.

Einer aus diesem Publikum ist ein gewisser Otto Waalkes, der als Stand-Up-Comedian in kleinen Hamburger Clubs auftritt. Er leiht sich die eine oder andere Pointe, wie beispielsweise aus Robert Gernhardts Gebet «Lieber Gott, nimm es hin / dass ich was Besondres bin...», und bringt sie unter die Leute. Und siehe da: Die Leute verstehen es! Sie schätzen es und füllen plötzlich Stadthallen. Fortan ist die deutsche Satire nie wieder das, was sie in den 1950er-Jahren noch gewesen ist, sondern frei, frech und auf gesellschaftliche Wirkung bedacht – wie heute Böhmermann.

Heine, Brecht und Kästner

Doch Gernhardt ist mehr als ein Unterhaltungsanarchist. Gernhardt ist Dichter. Er ist der komische deutsche Lyriker schlechthin und gehört diskussionslos in eine Reihe mit Heine, Brecht und Kästner. Seine Grösse kommt von seiner Begabung und Bildung – und sie kommt von der einzigen Frage, die ihn in Bezug auf Lyrik je bewegt hat: Wie geht das? Sein Leben lang hat er an dieser Frage gearbeitet.

Als Abiturient schreibt er von Dichter Georg Trakl ab, ohne dass sein Lehrer den Betrug erkennt. Später schreibt er in den Zungen Heines und Brechts, Jandls und Buschs. «Die Fackel weitertragen» nennt er das. Er versucht sich in Sonetten und schafft dabei das wohl berühmteste überhaupt («Sonette find ich sowas von beschissen…»). Und selbst ein Akrostichon-Sonett, ein 14-zeiliges Gedicht mit 14 Anfangsbuchstaben, die selber wieder einen Sinn ergeben, ist ihm nicht zu schwer: «Wir Weltmeister» heisst das Sonett. Ein Auftragswerk der NZZ vor einer WM.

Gar nicht wie Goethe

So ist der Meister der komischen Lyrik in erster Linie ein Meister der vollendeten Form. Im Gegensatz zu einem Goethe, der laut dem Frankfurter Satiriker und Schriftsteller Jürgen Roth 80 Prozent seiner Gedichte schlicht hingeschlampt habe. Oder im Gegensatz zu manch zeitgenössischem Dichter, für den die einzige akzeptable Form die Formfreiheit ist.

Tatsächlich ist die Schar derer, die heute «die Fackel weitertragen», überschaubar. Christian Maintz in Hamburg, Thomas Gsella in Aschaffenburg und noch ein, zwei andere. Gernhardts Wirkung aber – und mit ihr die der gesamten Neuen Frankfurter Schule – ist ungebrochen. Das hat man neulich wieder gesehen, als ein Gedicht eine Staatskrise auslöste.

Meistgelesene Artikel