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Literatur Totentanz im Wallis: Wenn das Sterben zum Verrecken wird

«Der Mensch ist des Menschen Wolf» – diese Redewendung macht Werner Ryser in seinem monumentalen Historienroman «Walliser Totentanz» erlebbar. In seiner Geschichte, die im Goms um 1500 spielt, erzählt der Autor, wie die Kräuterfrau Magdalena Capelani ihre Familie durch die Stürme der Zeit führt.

Gleich dreifach kommt der Totentanz in dieser Geschichte aus dem Wallis vor. In erster Linie meint Totentanz den täglichen Überlebenskampf in jener Zeit, den permanenten Tanz mit dem Tod, verursacht durch die drei Geisseln der Menschheit: Krieg, Pest, Hunger.

Menschen verscheuchen vor dem Totenbett den Tod in Form eines Skeletts.
Legende: In der frühen Neuzeit war der Tod allgegenwärtig: Neben der Pest forderte der Krieg unzählige Opfer. Flickr/Arallyn!

Daneben taucht der berühmte Totentanz auf der Mauer des Dominikanerklosters in Bern auf – gemalt von Niklaus Manuel Deutsch. Zusammen mit dem Luzerner Bilderschnitzer Jörg Keller, der den eindrücklichen Altar in der Liebfrauenkirche in Münster im Goms geschaffen hat, verkörpert Niklaus Deutsch im Roman die dem Tod entgegengestellten Werte der Kunst und der Kultur.

Der dritte Totentanz im Roman ist wörtlich gemeint: Der Totentanz als heidnischer Brauch, dem Tod das Leben entgegenzuhalten, indem die Dorfgemeinschaft in der Nacht nach einer Beerdigung auf dem Grab des Verstorbenen musiziert und tanzt.

Das Goms als Spielball zwischen den Mächten

Schauplatz der Geschichte ist das Oberwallis in den Jahrzehnten zwischen den Burgunderkriegen und den Mailänderkriegen, von 1460 bis 1530. Der Erzählfaden verwebt geschickt das Weltgeschehen mit Regionalpolitik und dem Leben in der Dorfgesellschaft; verschränkt historische Persönlichkeiten und Ereignisse mit Romanfiguren.

Das Wallis jener Epoche ist zerrissen zwischen zwei mächtigen Einheimischen: Dem Kriegsherrn Georg Supersaxo, der zum französischen König hält, und dem papsttreuen Kardinal Matthäus Schiner. Zankapfel ist Oberitalien, um dessen Besitz die Eidgenossen bis zur verlustreichen Schlacht von Marignano skrupellos mitkämpfen – und mit den Eidgenossen die Walliser.

Ein Verdacht könnte tödlich sein

Buchhinweis

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Werner Ryser: «Walliser Totentanz». Nagel&Kimche, 2015.

Werner Ryser jedoch ist Romancier, nicht Historiker. Die grossen Ereignisse dienen ihm als Hintergrund für die eigentliche Geschichte: Ryser begibt sich in die Niederungen und Verwinkelungen des Alltags, in den Überlebenskampf innerhalb einer Dorfgemeinschaft vor 500 Jahren, erzählt von menschlichen Schicksalen.

Im Zentrum steht die Kräuterfrau Magdalena Capelani aus Münster im Goms. Das Dorf ist angewiesen auf ihr Wissen um die Heilkräfte der Natur, aber es fürchtet sie zugleich und ist überzeugt, dass sie eine Hexe ist. Auf der Schwelle zwischen Animismus und Vernunft ist Capelani dem offiziellen Kirchenglauben gegenüber selbst skeptisch eingestellt. Eine Haltung, die sie um jeden Preis verbergen muss, um sich und ihre Familie von jedem Verdacht fernzuhalten. Denn ein Verdacht könnte tödlich sein.

Wenn das Sterben zum Verrecken wird

Porträbild von Ryser.
Legende: Der Basler Autor Werner Ryser. Nagel&Kimche

Die Summe der Gefahren, des Elends und der Bosheiten, die jeden Menschen dieser Zeit treffen, übersteigt eigentlich unsere Vorstellungskraft. Ryser öffnet einem die Augen dafür, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, in der das Leben des Einzelnen jederzeit von einer Laune der Natur oder eines Mächtigen, von einer Soldateska, oft aber auch vom unmittelbaren Nachbarn zerstört werden kann.

Damit macht er deutlich, wie schwach menschliches Leben ohne institutionalisierten Schutz ist. Praktisch jeder stirbt vor seiner Zeit: geschlachtet im Kampf, qualvoll verendet im Bett nach einer missglückten Abtreibung, lebendig verbrannt auf dem Scheiterhaufen, zugrunde gegangen an der Pest oder am Wundbrand nach einer kleinen Verletzung. Gleichsam zum Leitmotiv wird der Ausdruck «jemandem wird das Sterben zum Verrecken». Immer wieder trifft es Familienmitglieder oder enge Bekannte von Magdalena Capelani.

Zum Schreiben dieses Romans wurde Werner Ryser unter anderem motiviert, nachdem er von der tatsächlichen Verbrennung dreier Mädchen gelesen hat. Sie kamen in Ernen im Goms als Hexen auf den Scheiterhaufen, weil sie einen verheerenden Hagelschlag herbeigezaubert haben sollen. Ihre Namen: Elsa, Anna und Maria Capelani.

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