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Literatur Wie der kleine Versager aus Russland in den USA gross wurde

Als Kind hiess er Igor Shteyngart. Aber da er die zweite Hälfte seiner Kindheit nicht mehr in Russland, sondern in den USA verbrachte, wurde aus Igor Gary. In «Kleiner Versager» erzählt Gary Shteyngart mit viel Witz, wie ihm schon als Kind das Schreiben half, seine Identität zu finden.

In wilden Fantasien und Science-Fiction-Konstruktionen hat der 1972 in Leningrad geborene Gary Shteyngart das Material seiner Lebensgeschichte verarbeitet. Er erzählt die «Geschichte hinter den Geschichten» – die wahre Geschichte seines Lebens.

Im englischen Original ist sein Buch «Little Failure» mit der Genre-Bezeichnung «A Memoir» versehen. «In diesem Buch wollte ich alles so erzählen, wie ich es wirklich gefühlt und erlebt habe – um es loswerden und hinter mir lassen zu können und dann mal ein ganz anderes Buch zu schreiben», sagt der Autor.

Buch-Hinweis

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Legende: Rowohlt

Gary Shteyngart: «Kleiner Versager», Rowohlt, 2015

Gary Shteyngart hat mit grosser Detailgenauigkeit seine Kindheit in Russland rekonstruiert, die Auswanderung als 6-Jähriger nach Amerika und das langsame, mühsame Ankommen dort.

Der Schwächling, Lenin und die magische Gans

Im Mittelpunkt steht die Kindheit. Diese Kindheit liest sich zwar lustig – war aber alles andere als das. Schon in Russland als einziges Kind inmitten von lauter Erwachsenen war der kleine Igor, ein schwächliches, asthmatisches Kind. Einerseits überängstlich behütet, andererseits vom Vater geschlagen, Schwächling und Rotznase genannt.

Aber Igors Wissbegier und Begeisterungskraft sind riesig: Schon als 5-Jähriger schreibt er seinen ersten Roman mit dem Titel «Lenin und die magische Gans». Das Schreiben wird zum Zaubermittel, nicht zuletzt gegen die sich ständig wüst streitenden Eltern.

Leben in der Farbfernseher-Welt

Dann kam das Jahr 1978. Unter den mehreren 100‘000 jüdischen Menschen, die aus Russland auswandern durften – im Gegenzug lieferte der Präsident Carter Weizen und Spitzentechnologie – war auch die dreiköpfige Familie Shteyngart. Der Übergang von der russischen Schwarzweiss-Welt in die grelle Farbfernseher-Welt der USA war für Igor, der sich nun Gary nannte, nicht leicht.

Gary Shteyngart

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Legende: SRF/Bernadette Conrad

Shteyngart ist bei uns kein Unbekannter mehr. Mit seinem Debut «Handbuch für den russischen Debütanten» (2002) und zwei weiteren Romanen hat der russisch-jüdisch-amerikanische Autor viele Geschichten über Aussenseiter erzählt, die mit einem Kultur-Clash zwischen der alten Sowjetunion und der neuen Welt Amerika fertig werden müssen.

Auf der jüdischen Schule in Queens, New York, fehlten Shteyngart, der weder Englisch noch Hebräisch sprach, sämtliche Schlüssel für die neue Welt: «Natürlich gab es glückliche Momente, aber meist war es eine ungeheuer angespanntes Lebensgefühl, teils in dieser speziellen Familie, teils wegen der Emigration. Es war immer ein Leben auf der Kippe.»

Das Schreiben ermöglichte schliesslich, dass sich Gary in Amerika assimilierte. Im Schreiben, sagt er, habe man keinen Akzent.

Überleben mit Witz

Was Gary Shteyngart in diesem vierten Buch nun zur Meisterschaft gebracht hat, ist die Fähigkeit, auf die eigene Geschichte mit so viel Sinn für Witz und Absurdes zu blicken, dass er seine Leser sofort gewinnt.

Humor, sagt er selbst, ist das wichtigste kulturelle Erbe der Juden; ein Verteidigungsmechanismus, ein Werkzeug zum Überleben, mit dem man aber auch hervorragend unterhalten kann.

Immigrieren – keine Kleinigkeit

Shteyngart hat der amerikanischen Immigranten-Literatur ein wichtiges Buch hinzugefügt. Er geht offen und schonungslos mit den Eltern, aber auch sich selbst um – und am Ende der Lektüre hat man viel über sie alle und ihre komplizierten Vorgeschichten gelernt.

Mitten im Kalten Krieg das Lager zu wechseln und von Russland zum Erzfeind USA zu wechseln – auf der Suche nach einem neuen Zuhause, das ist eben keine Kleinigkeit.

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