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Literatur Wie «Die Schwarze Spinne» Daniel Kehlmann traumatisierte

Was hat Daniel Kehlmann von Jeremias Gotthelf gelernt? Eine Menge, wenn man Kehlmanns jüngstem Buch glauben darf. In «Kommt, Geister» erzählt der Erfolgsschriftsteller, wie er als Bub während eines Schweiz-Urlaubs «Die schwarze Spinne» gelesen hat. Ein Erlebnis, das er sein Leben lang nicht vergass.

Es geschah im Glarner Bergdorf Braunwald: Da verbrachte Daniel Kehlmann als Neunjähriger seinen Sommerurlaub, zusammen mit seinen Eltern, die sich mit dem lesebegeisterten Volksschüler in einem kleinen Häuschen eingemietet hatten. Eines Nachmittags, die Berge vorm Fenster glitzerten gletscherweiss, entdeckte Kehlmann im Bücherregal eine alte verstaubte Ausgabe von Jeremias Gotthelfs Schauernovelle «Die schwarze Spinne».

Daniel Kehlmann

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1975 in München geboren, lebt Kehlmann in Berlin und Wien. Der vielfach preisgekrönte Autor wurde einem breiten Publikum bekannt mit seinem Roman «Die Vermessung der Welt». In 46 Sprachen übersetzt, von Detlev Buck verfilmt, wurde «Die Vermessung der Welt» zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit.

Dagegen ist Stephen King beinahe zahm

«Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gefürchtet wie nach der Lektüre dieses Buchs», erinnert sich der Schriftsteller, nie zuvor habe er solche Albträume gehabt, nie eine solche «Intensität der Angst» verspürt: «Im Vergleich zu dieser Vision eines Schweizer Biedermeierschriftstellers sind all die Meister des Schreckens, von Poe über Lovecraft bis hin zu Stephen King, beinahe zahme Leute.»

In der Textfassung seiner Frankfurter Poetikvorlesungen «Kommt, Geister» beschreibt Kehlmann Jeremias Gotthelfs Novelle als eine christlich-reaktionäre Schreckensvision mit frauenfeindlicher Schlagseite, ein «böses, krankes Buch». Zugleich vergehe er heute noch vor Bewunderung für die Unerschrockenheit, mit der Pfarrer Gotthelf ein geniales Stück Horrorliteratur abgerungen habe – geboren aus seinem von Sexualangst und quälendem Frauenhass gepeinigten Unbewussten.

Kehlmanns literarische Hausgötter

In seinen Poetik-Vorlesungen beschäftigt sich Daniel Kehlmann aber nicht nur mit der schwarzen Schweizer Romantik der 1840er-Jahre, sondern auch mit Shakespeare, Grimmelshausen, J.R.R. Tolkien und Leo Perutz – einigen seiner literarischen Hausgötter.

Buchhinweis

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Daniel Kehlmann: «Kommt, Geister», Frankfurter Vorlesungen, Rowohlt-Verlag, 2015.

Ausführlich analysiert er Perutz’ Roman «Der Marques de Bolibar» und einige andere Texte des grossen Wiener Phantasten. «Leo Perutz», bekennt Kehlmann, «ist neben Thomas Mann der deutschsprachige Schriftsteller, der mich am stärksten geprägt hat». Er habe sich einiges abgeschaut von Perutz’ «metaphysischer Intelligenz», welche keine religiöse oder gar esoterische Grundierung habe.

Ingeborg Bachmann vs. Peter Alexander

In «Kommt, Geister» bietet Daniel Kehlmann faszinierende Einblicke in seine schriftstellerische Werkstatt. Die Werkzeuge, die er in seinen Texten zur Anwendung bringt, verdankt der Bestsellerautor prominenten Vorgängern aus fünf Jahrhunderten, denen er in diesen Poetik-Vorlesungen seine Reverenz erweist.

Dazu gehört neben den bereits erwähnten Schriftstellern auch Ingeborg Bachmann, Tochter eines nationalsozialistischen Lehrers. Kaum eine Autorin nach 1945 hat die NS-Verstrickungen der deutschen und der österreichischen Nachkriegsgesellschaften so kompromisslos – und ästhetisch ambitioniert – beschrieben wie gerade sie.

Kehlmann kontrastiert Bachmanns Radikalität, die er vorbildhaft findet, mit einem der erfolgreichsten Kino- und Schlagerstars der 1950er- und 1960-er Jahre: Peter Alexander. «In meinen Augen ist Peter Alexander ein Gesamtkunstwerk der Inauthentizität», erklärt Kehlmann, der den 1926 geborenen Nachkriegs-Entertainer zu den grossen Schreckensgestalten seiner Kindheit und Jugend zählt.

Peter Alexander als Sinnbild der Verdrängung

Audio
Daniel Kehlmann und seine Liebe zu Jeremias Gotthelf
04:09 min
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 9 Sekunden.

Am Beispiel «Peters, des Grossen», wie seine Fans den Schlagerstar genannt haben, arbeitet Kehlmann die unerhörte Verdrängungsleistung heraus, die die Unterhaltungskultur der Wirtschaftswunderzeit dem nationalsozialistischen Erbe gegenüber an den Tag gelegt hat.

Als Gegenbild zum Wiener Klamauk-Virtuosen Peter Alexander fungiert in Kehlmanns Sicht der Dinge nicht nur Ingeborg Bachmann, sondern auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der Anfang der 1960er-Jahre das Zustandekommen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse mitbetrieben hat. Diese drei äusserst unterschiedlichen Persönlichkeiten – Ingeborg Bachmann, Peter Alexander, Fritz Bauer – stellt Kehlmann in seiner ersten Poetik-Vorlesung einander gegenüber.

Denn bei aller Liebe zur Phantastik, daran lässt Daniel Kehlmann keinen Zweifel: Zuallererst ist die Literatur – wie die Kunst als Ganzes – der Wahrheit verpflichtet.

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