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Literatur Zwischen Wehmut und Aberwitz: Martin Walsers neuer Roman

Martin Walser hatte zuletzt mit der Distanzierung von seiner umstrittenen Rede zur Verleihung des «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» 1998 von sich reden gemacht. Jetzt ist sein neuer Roman «Ein sterbender Mann» erschienen. Ein Buch, in dem nichts unmöglich scheint.

Der erste Brief hat sieben Nachsätze. Ein PS nach dem anderen, bis schon zu Beginn Personal und Themen des neuen Walser-Romans exponiert sind.

Theo Schadt schreibt. Er ist Unternehmer, Anfang siebzig, Chef einer Firma, die Patente entwickelt – und er ist bankrott. Gescheitert am Verrat seines besten Freundes, der ein neues Medikament an die Konkurrenz verkauft hat. Carlos Kroll heisst er, und er ist ein erfolgloser Dichter. Die Firma wird liquidiert und ihr ehemaliger Chef Theo Schadt Stammgast im Internet.

Rückzug im Internet – und Tangoladen

Er schreibt. Er schreibt in Suizid-Foren und an die «göttliche» Ehefrau Iris, an die lebensmüde Aster und an einen Namenlosen, der als «Herr Schriftsteller» angesprochen ist. Briefe und Mails, Mails und Briefe, die von allem berichten, was Theo Schadt umtreibt. Alter und Befindlichkeit sind das, der Todeswunsch und der Verrat, aber auch die Politik, wenn er «Berichte an die Regierung» adressiert.

Neue Arbeit hat der gescheiterte Unternehmer bei seiner Frau gefunden, im Tangoladen, an der Kasse. Ein nützlicher Rückzugsort, aber: Es ist der Ort einer Erscheinung. «Was war passiert?», schreibt Walser. «Eine Explosion. Nur noch Licht. Grellste Helle. Nichts mehr erkennbar, der ganze Laden ein Chaos.»

Ja, was war passiert? Das grelle Leuchten gilt einer Frau. Sie hat den Laden gerade wieder verlassen, als Theo Schadt den Moment der grössten Anziehung erfasst. Blitzschlag mit Sina, könnte man sagen, denn das ist der Name dieser Erleuchtung: Sina Baldauf.

Wehmut und Aberwitz

Sina Baldauf gibt es wirklich. Im richtigen Leben heisst sie Thekla Chabbi und Walser dankt ihr im Vorwort für ihre Mitarbeit am Buch. Sie ist Übersetzerin und soll die Passagen der Sina aus dem Mailverkehr im Roman verfasst haben. Das wäre ein gelungenes Experiment, so scheint es, denn diese Texte fügen sich so lückenlos wie die anderen in diesen locker gereihten Briefroman. Sina ist jetzt die Hauptfigur. Zentrum aller Projektionen, an denen Walser seine Lieblingsthemen variiert: Alter und Libido, Leben und Liebe.

Er assoziiert, parodiert und springt in Thesen, Themen und tagebuchartigen Aufzeichnungen von einem zum anderen. Reiseberichte stehen neben Träumen, Gedichten und Verweisen auf Kleist oder Kafka. Ironie und Groteske sind wieder Walsers Stilmittel in einem Szenario, das so zwischen Wehmut und Aberwitz schwankt.

Buchhinweis

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Martin Walser: «Ein sterbender Mann». Rowohlt Verlag, 2016.

Sentenzen zur Lebenslage

Am Ende sind viele tot. Nur einer nicht, Theo Schadt. Der Verräter Kroll wird vergiftet und ist, als letzte Pointe, zugleich Sinas Geliebter. Sina verschwindet. Die «göttliche Iris» bringt sich um, als sie verlassen wird und die gemeinsame Tochter kann dem Vater eben das nicht verzeihen.

Abgeräumt ist das Personal, das dem Autor doch kaum ein Eigenleben wert war. Souverän jongliert er da mit allem, nur um das grosse Ego seines Helden ins Licht zu setzen. Nichts ist unmöglich in diesem Roman, den Walsers artistische Spielfreude antreibt.

Das Ende verliert sich in Aphorismen. Ein paar altersweise Sentenzen zur Lebenslage. Auch das nur ein Spiel? Das möchte man dieser Romanfigur dann doch nicht wünschen. Und ihrem Autor auch nicht.

Wirklich nicht.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 11. Januar 2016, 17:45 Uhr

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