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Musik Michel Petrucciani, der zerbrechliche Gigant

Michel Petrucciani verzauberte und irritierte gleichermassen. Seine Virtuosität, sein Temprament, seine Leidenschaft bleiben schier unfassbar. Der Film «Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit» ist dem wohl aussergewöhnlichsten Jazzpianisten auf der Spur und offenbart einen Menschen ohne Limit.

Natürlich irritiert es, ihm zuzusehen. Diesem knapp einen Meter kleinen Wesen mit der gekrümmten Gestalt, den grossen, erschrockenen Augen und diesem riesigen Hintern, der ihm im Laufe seines Lebens wuchs. Wie er an Krücken zu seinem Flügel humpelt, sich aufschwingt. Und dann mit seinen Händen auf den Tasten tanzt, als gäbe es kein Morgen mehr. Verstörend ist das.

Ein Genie mit «Freak-Faktor»

Petrucciani war klar, dass seine Musik nur zusammen mit seiner extremen Physis existieren konnte. Die Leute waren nie nur von seinem Können, sondern immer auch von seiner markanten Optik beeindruckt. Er hatte mit diesem «Freak-Faktor» zu leben.

Als Pianist war er virtuos. Kein Avantgardist, kein Revolutionär – aber doch ein beseelter Erfinder mit stupender Technik. Doch erst zusammen mit seinen körperlichen Limitationen entstand jene zwingende Aura, der sich kaum jemand entziehen konnte.

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«Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit», Polyband Medien, 2011

Sein enger Freund und Förderer Roger Willemsen gab sich davon betont unbeeindruckt und versicherte oft, wie anders er das sah: Er habe sich zuerst in Petruccianis Musik verliebt und sein besonderes Aussehen erst später bemerkt. Ein Zeichen von Zuneigung und Bewunderung, ein liebevoller Akt des Beschützen-Wollens vor der voyeuristisch glotzenden Menge? Aber wem gelingt diese Trennung wirklich? Hätte man Petrucciani auch dann einen «Giganten» genannt, wenn er nicht so klein gewesen wäre?

Fragile Heftigkeit

Schon bei seiner Geburt brach Michel Petrucciani sich die meisten seiner fragilen Knochen. Auf die Wucht, mit der ihn das Leben empfing, konnte er offenbar nur mit eigener Heftigkeit reagieren. Er war vier Jahre alt, als er das Spielzeugklavier, das seine Eltern ihm kauften, mit einem Hammer zertrümmerte. Er wollte ein richtiges. Und bekam es dann auch.

Video
Filmausschnitt: Mitstreiter über Petruccianis Knochenbrüche
Aus Kultur Extras vom 28.06.2013.
abspielen. Laufzeit 48 Sekunden.

Wenn Michel Petrucciani später am Flügel sass und seine Finger unfassbar behände über die Klaviatur galoppierten, dann hatte das etwas Selbstzerstörerisches. Seine rechte Hand war ein kraftvoller Singvogel. Aber die zerbrechliche Substanz dieses kleinen Menschen gab immer wieder nach, wenn er auf dem Flügel spielte, zwitscherte, wütete. Finger und Schlüsselbein zerbrachen, Sehnen rissen. Doch nie brach Petrucciani einen seiner Auftritte ab. Die Musik schien seinen Schmerz zu betäuben. Sie war seine Medizin, seine Droge. Aber längst nicht die einzige.

Im Film «Leben gegen die Zeit» erklärt Petrucciani rotzig: «Wie gern würde ich sagen: Ich bin klein, ich leide, ich kriege keinen hoch. Aber alles ist gut.» Und tatsächlich stürmte er mit unfassbarer Lebenswut durch sein Dasein. Aus der Provence nach Paris, dann nach New York und um die ganze Welt. Ein Energiebündel, das kaum zu bändigen war. Frauen, Champagner, Koks. Und alles nicht zu knapp.

Video
Filmausschnitt: Petrucciani über sein Liebesleben
Aus Kultur Extras vom 28.06.2013.
abspielen. Laufzeit 45 Sekunden.

Indianerfrauen und zärtliche Hünen

Wenn schon nicht normal, dann wenigstens aussergewöhnlich. Das Extreme als Zufluchtsort. Petruccianis Licht strahlte heller als andere, aber dahinter wurde es manchmal eben auch besonders dunkel. Er konnte gemein sein, respektlos und arrogant. Das war seine andere Seite, der «Dämon», wie eine seiner Ex-Frauen im Film erzählt.

Seine Frauen haben ihn dennoch auf Händen getragen. Und sie trugen ihn tatsächlich, wie ein Kind auf den Armen. Schöne, starke Frauen, darunter auch die Tochter eines Indianerhäuptlings. Petrucciani schien immer nach Grösse zu streben. Und die Grossen neigten sich ihm zu. Verstörend, wie der hünenhafte Roger Willemsen sich auf dem Sofa zärtlich an ihn schmiegte.

Petruccianis Leben war ein Füllhorn fantastischer Geschichten, ein ambivalentes Gesamtkunstwerk. Widersprüchlich, berührend und zutiefst irritierend, wie alles was gut ist.

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