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Interview «Wir sind keine Politiker. Aber Musik versteht jeder»

Wirbelsturm und Wahlen – eine strapaziöse Kombination für Haiti. Der Inselstaat hat mit Naturkatastrophen und politischen Unruhen zu kämpfen. Gitarrist Steeve Valcourt über die missliche Lage in seiner Heimat, sein Künstlerkollektiv und deren Musik, die dem Elend etwas entgegensetzen will.

SRF: Wie hat der Hurrikan Matthew Haiti verändert?

Steeve Valcourt: Jedes Mal ist ein Hurrikan oder ein Erdbeben ein Desaster für uns und erschüttert unseren ohnehin geschwächten Organismus. Nach Matthew haben einige unserer Landsleute die Chance gewittert, zwielichtige Geschäfte anzufangen. Sie haben nur ihren Gewinn vor Augen. Das Schicksal sozial Benachteiligter und Obdachloser ist ihnen gleichgültig.

Genau von diesen Problemen sprechen wir auch in unserem Song «Anba Siklon», der nach dem schweren Erdbeben 2010 entstanden ist. Mit den Worten «wie könnt ihr diese schwierigen Momente ausnutzen und nur von Profitgier getrieben sein» klagen wir dieses Verhalten an.

Warum werden ausgerechnet bei uns, wo ohnehin Hungersnot herrscht, Märkte zerstört?

Zur Person

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Gitarrist Steeve Valcourt, Sohn des legendären haitianischen Blues- und Jazz-Gitarristen und Sängers Boulo Valcourt, gründete kurz nach dem Erdbeben 2010 das Künstlerkollektiv Lakou Mizik, zu Deutsch «Musik im Hof». Eine Formation von neun Musikern, die mit ihrem Sound den Opfern der Naturkatastrophe Zuversicht schenken wollen.

Wie ist die Stimmung nach den Wahlen Ende November?

Angespannt und chaotisch. Märkte sind in Port au Prince und in Tabarre in Flammen aufgegangen. Kaum einer wagt sich aus dem Haus, viele haben Angst. Hier herrscht höchste Alarmstufe.

Die Geschichte wiederholt sich. Immer wieder werden Märkte nach den Wahlen in Brand gesetzt. Diese Unruhen sind doch vorhersehbar gewesen. Warum werden ausgerechnet bei uns, wo ohnehin Hungersnot herrscht, Märkte zerstört? Jeder leidet darunter. Ich fühle mich hier nicht sicher, wir brauchen polizeiliche Präsenz, die diese öffentlichen Plätze schützt.

Kann Musik etwas in Haiti bewirken?

Ich glaube fest daran, dass ich mit Musik etwas bewirken kann und jetzt gefordert bin. Zum ersten Mal habe ich wieder ein Lachen in den Gesichtern der 2010 obdachlos gewordenen Menschen gesehen, als wir den traditionellen Song Peze Kafe spielten.

Wir sind damals mit Trommeln und Gitarren in die Notunterkünfte gegangen und haben Lieder gespielt, die alle Haitianer kannten. Wir sangen: «Es gibt Hoffnung, das Leben geht weiter, lasst euch nicht unterkriegen! Kopf hoch!»

Die Musik in Haiti hat Kraft und Macht, gerade jetzt. Sie ist die einzige Waffe, die uns bleibt. Wir sind keine Politiker. Aber Musik versteht jeder. Sie spricht alle Generationen an. Und gerade bei diesen schwierigen Lebensbedingungen sind wir gefordert.

Ich werde kritisch beobachten, wie die neue Regierung vorgeht.

Warum bleiben Sie in Haiti?

Ich liebe meine Heimat und es gibt gute Gründe, Haiti die Perle der Antillen zu nennen. Ich habe in New York gelebt, habe dort das College und die Universität besucht. Doch ich bin ganz bewusst wieder nach Haiti zurückgekehrt. Denn ich will aktiv am Aufbau meiner Heimat teilnehmen, um die Situation zu verbessern.

Dafür muss ich hier sein und mich mit der Realität auseinandersetzen. Ausserdem will ich meine Landsleute nicht im Stich lassen.

Ich werde kritisch beobachten, wie die neue Regierung vorgeht. Denn Haiti ist meine Heimat. Der Anführer der haitianischen Revolution Jean-Jacques Dessalines sagte damals schon «Haiti bedeutet: du bist Zuhause.»

Das Gespräch führte Marlene Küster.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 29.11.2016, 17:20 Uhr

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