Am 10. September 1919 trat der Vertrag von St. Germain in Kraft, jener Vertrag, mit dem nach dem 1. Weltkrieg das Südtirol Italien zugesprochen wurde. Noch immer gibt es im Südtirol Parteien und Gruppierungen, die lieber zu Österreich gehören würden. Eine, die dieses gespaltene Verhältnis bestens kennt, ist Lilli Gruber. Sie stammt aus Bozen und hat in Rom Karriere gemacht. Seit 1919 habe sich im Südtirol vieles zum Guten bewegt.
SRF News: Sehen Sie sich als Italienerin oder Südtirolerin?
Lilli Gruber: Ich bin Südtirolerin, eine italienische Staatsbürgerin und fühle mich als Europäerin.
Sie bezeichnen sich als italienische Staatsbürgerin, was sie de facto sind. Können Sie mir erklären, warum man im Südtirol, wenn man von Italienern spricht, sich selbst nicht meint?
Wir sind in erster Linie Südtiroler, das heisst, dass unsere Wurzeln im K&K, im österreichischen Reich, liegen. Was nicht bedeutet, dass man dem italienischen Staat nicht loyal gegenübersteht. Man gibt lediglich seine Identität und seine ursprünglichen Wurzeln nicht auf.
Zu der Zeit, als Sie geboren wurden, explodierten im Südtirol Bomben. Es war die Zeit, als radikale Separatisten am Werk waren, der Südtiroler Befreiungsausschuss wirkte. Hat Sie das in Ihrer Kindheit geprägt?
Natürlich war das ein Thema, zumal meine Grossmutter eine sehr gut informierte Dame war und sich politisch für die Minderheit im Südtirol engagiert hat. Sie hat sich das ganze Leben lang geweigert, Italienisch zu lernen. Es gab in meiner Verwandtschaft verschiedene Meinungen: Die Separatisten wurden einerseits als Terroristen und andererseits als Freiheitskämpfer gesehen.
Inzwischen gibt es eine weitgehende Autonomie im Südtirol. Trotzdem gibt es noch Separatisten. Warum?
Es gibt eine vorbildhafte Autonomie im Südtirol. Nach vielen Jahren hat der Zentralstaat in Rom die Versprechen eingehalten und internationale Abkommen respektiert. Das Südtirol ist heute, im Unterschied zu den Sechzigerjahren, als die Bomben explodierten, ein reiches Land.
Die Partei Südtiroler Freiheit, 2007 gegründet, verfolgt die Loslösung von Italien. Warum gibt es solche Gruppierungen?
Weil es im Südtirol immer noch Leute gibt, die denken, dass es uns besser gehen würde, wenn wir zu Österreich kämen.
Für viele Südtiroler sind sowohl der Friedensvertrag von 1919, als auch der Faschismus und die Bomben eine offene Wunde.
Was sind das für Sehnsüchte, die offenbar noch in den Südtirolern stecken?
Für viele Südtiroler sind sowohl der Friedensvertrag von 1919, als auch der Faschismus und die Bomben eine offene Wunde.
Wenn man heutzutage an separatistische Tendenzen in Europa denkt, denkt man in erster Linie an Katalonien. Wäre so etwas auch im Südtirol denkbar?
Ich kann es mir nicht vorstellen, aber vielleicht bin ich zu optimistisch.
Im Südtirol ist die Politik sehr stabil. Die SVP, die Südtiroler Volkspartei, ist seit jeher an der Macht und es gab nie einen anderen Landeshauptmann als einer von der SVP. In Italien dagegen sieht es komplett anders aus, fast jedes Jahr gibt es dort eine neue Regierung. Können Sie nachvollziehen, wenn das Südtirol nicht dazugehören möchte?
Ja, ich selbst bin auch kritisch. Es gibt aber auch viele positive Sachen bezüglich Italien. Das Südtirol sollte zum Beispiel anerkennen, dass man nach wie vor viele öffentliche Gelder von Rom bekommt.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.