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Schwarz-weiss-Aufnahme eines Menschentrecks durch ein Dorf.
Legende: Hunderttausende Armenier wurden 1915/16 deportiert, viele von ihnen starben. Keystone Archiv
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International «Ein Zeichen gegen Völkermord-Leugner»

Schon 2003 hat in der Schweiz der Nationalrat den Massenmord an den Armeniern als Genozid anerkannt. Bis heute weigert sich aber der Bundesrat, dies ebenfalls zu tun. Dies habe rein wirtschaftliche Gründe, sagt der ehemalige Grünen-Nationalrat Ueli Leuenberger.

Sind die Gräueltaten an den Armeniern im osmanischen Reich, bei denen Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu 1,5 Millionen Menschen umkamen, als Genozid einzustufen? Ja – sagte dazu jetzt der Deutsche Bundestag.

Bereits 2003 hatte in der Schweiz der Nationalrat den Völkermord an den Armeniern durch das osmanische Reich offiziell als solchen anerkannt, nicht aber der Bundesrat. «Seine Haltung gegenüber der Türkei ist sehr unklar. Das ist sehr schlecht», sagt dazu Ueli Leuenberger. Der Grünen-Politiker war damals Nationalrat und Co-Präsident der parlamentarischen Gruppe Schweiz-Armenien.

SRF News: Hat die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Nationalrat etwas verändert?

Ueli Leuenberger: Es war ein wichtiger politischer Entscheid, der nicht nur symbolisch war. Es ging darum, dass das Parlament den Völkermord anerkannte und gleichzeitig ein Zeichen gegen die Völkermord-Lügner setzte. Auch 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern gibt es leider immer noch wichtige Personen, die diese Tatsache leugnen wie auch die offizielle Türkei. Das bedeutet, dass auch in Zukunft solche Völkermorde begangen werden können. Im Nahen Osten sieht man ja, wie weit es heute immer noch gehen kann.

Gibt es ein Ereignis in den letzten 13 Jahren, von dem Sie sagen würden, die Anerkennung des Genozids durch den Nationalrat hat etwas gebracht?

In der Bevölkerung hat das sicher zum Nachdenken angeregt. Ich habe es damals selber erlebt: Es war wichtig, dass man sich bei Diskussionen auf den Entscheid des Nationalrats berufen konnte.

Von der türkischen Seite her passiert derzeit überhaupt nichts in Sachen Aufarbeitung.

Im Gegensatz zum Nationalrat will der Bundesrat den Begriff «Völkermord» im Zusammenhang mit den Armeniern weiterhin nicht verwenden. Es ist also sozusagen nur ein halbes Bekenntnis der offiziellen Schweiz. Welche Rolle spielt das in der ganzen Debatte?

Leider hat sich der Bundesrat dieser Anerkennung schon 2003 widersetzt. Seine Haltung gegenüber der Türkei ist unklar, was politisch schlecht ist. Die Schweiz beherbergt die UNO und den Menschenrechtsrat, sie vertritt die Genfer Konventionen – und nimmt in dieser Genozid-Frage keine klare Haltung ein. Allerdings weiss man ja, weshalb der Bundesrat diese Haltung hat: Aus wirtschaftlichen Interessen mit der Türkei. Dies zeigt auch folgende Anekdote: Bei der Diskussion im Nationalrat 2003 hatte sich auch der heutige Bundesrat Schneider-Ammann, damals noch Nationalrat, sehr heftig für die Interessen der Industriellen geäussert. Ich kann mich daran noch sehr gut erinnern, denn Schneider-Ammann hat sich in der grossen Kammer nicht sehr oft zu Wort gemeldet.

Müssten die wirtschaftlichen Interessen in diesem historischen Kontext denn zurückstehen?

Ja, sicher. Die Schweiz sollte bei der Abwägung zwischen wirtschaftlichen Interessen und Menschenrechten eine klare Haltung zu Gunsten der Menschenrechte einnehmen. Ich hoffe, dass sich im Fall des Genozids an den Armeniern auch der Bundesrat eines Tages noch dazu durchringen kann.

Nun wird heute der Deutsche Bundestag einen ähnlichen Entscheid treffen, wie 2003 der Nationalrat. Dazu gibt es auch kritische Stimmen, etwa die türkischstämmige Integrationsbeauftragte der deutschen Regierung. Sie sagt, eine solche Anerkennung könne eine richtige Aufarbeitung erschweren und die türkischen Nationalisten stärken...

In der Türkei wird immer wieder von der «Aufarbeitung» gesprochen. Doch konkret ist es so, dass Politiker und Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen, nicht nur kritisiert, sondern auch politisch verfolgt werden. Gerade die Entwicklung der letzten Monate unter Präsident Erdogan zeigt, wie Menschenrechte mit Füssen getreten und nicht respektiert werden. Kritische Journalisten werden verurteilt und ins Gefängnis geworfen. Entsprechend ist das Aufarbeitungs-Argument im Moment nicht akzeptabel. Denn von der offiziellen türkischen Seite her passiert in der Sache überhaupt nichts.

Im Nahen Osten sieht man, wie weit es heute noch gehen kann.

Welche Bedeutung hat der Beschluss des Deutschen Bundestags, die Massentötung an den Armeniern der Jahre 1915/16 heute offiziell als Völkermord anzuerkennen?

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«Das wichtigste Zeichen ist, dass man solch grausame Taten heute nicht mehr tolerieren darf»
aus SRF 4 News aktuell vom 02.06.2016.
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 43 Sekunden.

Das wichtigste ist das Zeichen, dass man solche grausamen Taten nicht mehr tolerieren darf und sich dagegen wehren muss. Wenn man heute sieht, was in Syrien, Irak oder anderswo auf der Welt passiert, sollte dies immer mehr politisch Verantwortliche dazu bringen, Nein zu sagen und sich darauf zu berufen, was damals in Armenien geschah. Ähnlich wie auf den Völkermord der Nazis an den Juden oder auf andere ähnliche Verbrechen in den letzten Jahrzehnten auch anderswo auf der Welt sollte der Genozid an den Armeniern als Mahnmal dienen, dass solch grausame Taten in Zukunft nicht mehr vorkommen können.

Das Interview führte Melanie Pfändler.

Ueli Leuenberger

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Ueli Leuenberger

Der Genfer Politiker Ueli Leuenberger war von 2003 bis Ende 2015 Nationalrat für die Grünen, von 2008 bis 2012 auch deren Parteipräsident. Der studierte Soziologe arbeitet heute als Berufsschullehrer in Genf und punktuell als Schulungsleiter im Bereich Integration.

Drohungen aus Ankara

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Drohungen aus Ankara

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