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International Erdogan auf dem Weg zur Alleinherrschaft

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird in Köln eine Rede halten. Gleichzeitig fordern in der Türkei Demonstranten Erdogans Rücktritt. Der Türkei-Experte Günter Seufert erwartet in Köln keinen Rücktritt. Vielmehr könnte Erdogan dort seine Präsidentschaftskandidatur ankündigen.

Rede in Köln

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Der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan hält heute Abend in der Kölner Lanxess-Arena vor rund 30'000 Anhängern eine Rede. mehr

SRF News Online: Was für einen Auftritt von Erdogan in Köln erwarten Sie?

Günter Seufert: Ich hoffe, dass er sich die Warnung der Bundeskanzlerin zu Herzen nimmt und nicht weiter polarisiert. Dass er sich als Staatsmann zeigt und nicht als Wahlkämpfer. Erdogan hat in den letzten Wahlkämpfen die türkische Gesellschaft stark polarisiert und davon auch profitiert. Es wäre fatal, wenn er das in Deutschland auch fortsetzen würde.

Wird er auf die Kritik von Bundespräsident Joachim Gauck von dessen Türkei-Besuch eingehen?

Das ist eher abgehakt. Die Deutschland-Beschimpfung, also die schmutzige Arbeit, übernehmen ohnehin im Moment die Presse und seine Berater. Er kann sich demnach zurücklehnen und könnte als Staatsmann auftreten.

Welche innenpolitischen Folgen für die Türkei könnte der Auftritt nach sich ziehen?

Höchstens die, dass Erdogan seine Kandidatur für den Präsidentschaftswahlkampf ankündigt.

Günter Seufert

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Günter Seufert ist Mitglied der Forschungsgruppe EU-Aussenbeziehungen der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik. Seine Forschungsgebiete umfassen die Türkei und die Erweiterungspolitik der EU.

Wäre der Zeitpunkt nicht ungünstig? Nach den unpassenden Aussagen zum Minenunglück schien Erdogan an Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren. Täuscht der Eindruck?

Nach meiner Wahrnehmung ist der Rückgang der Unterstützung eher lokal begrenzt. Der säkulare Teil der Gesellschaft hat es bisher nicht geschafft, ihn zu schwächen. Und: Erdogan verfügt nach wie vor über stabile Mehrheiten. Die Auslandstürken, vor denen er reden wird, wählen ohnehin seit Jahrzehnten eher national-konservativ.

Wenn er antritt, wird er schlussendlich die Wahl gewinnen?

Hundertprozentig würde er gewählt werden. Die Frage ist nur, ob er es im ersten Wahlgang schafft. Die Opposition sucht seit Wochen einen geeigneten parteiübergreifenden Kandidaten und kann sich nicht einigen. Ausserdem würde er der erste Staatspräsident sein, der direkt vom Volk gewählt wird. Die Türkei befindet sich deshalb bereits jetzt in einer Übergangsphase von einem parlamentarischen System hin zu einem Präsidialsystem.

Hat ihm auch nicht das umstrittene Verbot von Twitter und Youtube geschadet?

Das Verbot der sozialen Netzwerke hat nur die urbane Bevölkerung getroffen. Zwar leben ungefähr 75 Prozent der Türken in Städten, aber diese Städte sind nicht vergleichbar mit europäischen Städten, weniger urban. In Istanbul leben beispielsweise 13 Millionen Menschen. Aber nur zwei Millionen davon leben in urbanen Verhältnissen. Die anderen leben in Hochhaussiedlungen oder Stadtdörfern ohne grossen öffentlichen Raum, ohne Meinungsvielfalt. Diese Menschen informieren sich in der Regel über das Fernsehen.

Eine Demonstrantin mit Bauarbeiterhelm reckt die Faust in die Höhe.
Legende: Das Verhalten Erdogans nach dem Minenunglück von Soma hat zu Protesten gegen dessen Regierung geführt. Keystone

Erdogan als Staatspräsident. Wäre das ein Rückschritt in Sachen Demokratie?

Es ist auf jeden Fall der Weg zu einer Alleinherrschaft. Denn der Staatspräsident hat weitreichende Befugnisse. Er kann beispielsweise die Richter des Verfassungsgerichtes ernennen und entlassen. Schon jetzt gibt es fast keine gesellschaftlichen Institutionen mehr, die ihr Handeln nicht nach dem Willen Erdogans ausrichten. Die Gerichte urteilen noch, die Presse schreibt noch, das Parlament findet sich noch zu Sitzungen zusammen. Aber die ganzen Entscheidungen laufen auf das hinaus, was Erdogan vorgibt. Das ist sehr bedenklich.

Bedenklich steht es auch um die deutsch-türkische Diplomatie. Wie ist die aussenpolitische Position der Türkei hinsichtlich Deutschland und der EU?

Es kriselt schon länger in den Beziehungen zwischen Berlin und Ankara, aber im Moment steht es ausgesprochen schlecht. Die aktuelle deutsche Regierung und auch die Vorgängerregierung wollte mit verschiedenen Initiativen das Verhältnis abseits der EU-Beitrittsdiskussion verbessern. Das funktioniert aber nicht, weil es keine strategische Partnerschaft mit der Türkei geben kann. Denn die Türkei will nicht nur bei der EU einbezogen werden, sondern mitreden. Das geht nur über die Mitgliedschaft oder das Weitertreiben des Beitrittsprozesses.

Was leistet denn die Türkei für einen EU-Beitritt?

Die Türkei macht nicht mehr viel, um der EU beizutreten. Immerhin hat sie sich auf neue Verhandlungen in der Zypernfrage eingelassen. Und sie hat sich bereit erklärt die nächsten Verhandlungskapitel Justiz und politische Freiheiten zu eröffnen. Angesichts der Unabhängigkeit von Institutionen in der Türkei sind das sehr kernige Themen. Es ist aber die Republik Zypern, die diese Kapitel blockiert. Die grossen EU-Staaten konnten Zypern bislang nicht davon abbringen. Merkel und Hollande würden das Kapitel sehr gerne eröffnen.

Strebt die Türkei Erdogans überhaupt noch eine Vollmitgliedschaft in der EU an?

Ich glaube, die jetzige türkische Regierung und Erdogans Partei AKP haben gar kein Interesse an einer EU-Mitgliedschaft. Die Türkei hat aber ein Interesse daran, dass der Beitrittsprozess weitergeht. Es garantiert den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die EU ist nach wie vor der einzige Markt, in dem die Türkei ihre Technologieprodukte absetzen kann. Da die europäischen Regierungen nie in der Lage sein werden, einstimmig für einen EU-Beitritt der Türkei zu stimmen, läuft die Fortsetzung des Beitrittsprozesses nicht zwangsläufig auf eine Mitgliedschaft hinaus. Und: Nur das Weiterführen des Prozesses erlaubt der EU Einfluss auf innertürkische Entwicklungen zu nehmen.

Das Interview führte Oliver Roscher

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