SRF News: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Bewegung von Fethullah Gülen – wie von Präsident Recep Tayyip Erdogan gesagt – hinter dem Putschversuch vom vergangenen Freitag steht?
Nikolaus Brauns: Ich halte es für ausgeschlossen, dass sie eine treibende Kraft war. Zwar hat Gülen schon mehrere Putsche politisch unterstützt. Und seine Bewegung hat systematisch staatliche Institutionen, vor allem Polizei und Justiz, unterwandert. Doch fehlen ihr die nötigen Kontakte in der Armee. Diese war bis vor zehn Jahren für Menschen mit religiösem Hintergrund völlig verschlossen. Selbst wenn es der Gülen-Bewegung seither gelungen sein sollte in die Armee einzudringen, wären diese Leute heute nicht schon in einer Position, um einen Putsch anzuführen. Denkbar ist, dass einzelne Putschisten Kontakte zu Gülen haben und dass sie von der Bewegung dazu ermutigt wurden.
Wie mächtig ist die Gülen-Bewegung in der Türkei?
Noch vor zehn Jahren war sie sicher die mächtigste Bewegung des politischen Islams in dem Land. Sie hatte nicht nur einen Parallelstaat aufgebaut, sondern besass auch Unternehmen und zählte Millionen von Anhängern. In den letzten zwei Jahren schüttelte Erdogan die Gülen-Bewegung aber stark durch: Er versetzte 15‘000 Beamte – hohe Terrorfahnder fanden sich plötzlich bei der Forstpolizei wieder. Hunderten machte er den Prozess wegen angeblicher Bildung einer terroristischen Vereinigung und sperrte sie ins Gefängnis. Unternehmen der Bewegung liess Erdogan verstaatlichen und ihre Zeitungen schliessen. Es ist deshalb schwierig zu sagen, wie viel Einfluss Gülen noch hat. Für Millionen Türken ist er aber immer noch ein wichtiger spiritueller Führer.
Die Gülen-Bewegung ist nicht am Ende. Dafür ist sie viel zu gut auf illegales Arbeiten vorbereitet.
Zu sagen, die Gülen-Bewegung sei am Ende, wäre also übertrieben?
Am Ende ist die Bewegung bestimmt nicht. Dafür ist sie viel zu gut auf die illegale Arbeit vorbereitet. Auch in Phasen, in denen sie neben der Armee die zweite Kraft im Land war, arbeitete sie zu einem grossen Teil illegal und konspirativ. Zu beachten gilt es auch, dass die Bewegung nicht nur in der Türkei existiert. Sie hat Stützpunkte – Unternehmen, Vereine, Schulden – in über 140 Ländern. Sie hat gute Verbindungen insbesondere in die USA, wo Gülen lebt. Sollte Erdogan irgendwann nicht mehr an der Macht sein, wird die Gülen-Bewegung sich wie der Phönix aus der Asche wieder erheben.
Das Gespräch führte Joel Hafner.
Gülen und Erdogan – vom Freund zum Feind
- In den 1970er Jahren beginnt die Gülen-Bewegung damit, die staatlichen Institutionen zu unterlaufen und ihre Kader in der Polizei und der Justiz zu platzieren. - 2002/2003 feiert die jetzige Regierungspartei AKP einen grossen Wahlerfolg. Ihr fehlt das nötige Fachpersonal, um die Stellen im Staatsapparat, die noch in den Händen der alten, säkularen, laizistischen Elite sind, zu besetzen. Erdogan setzt auf die Gülen-Bewegung. Mit ihr will er den gemeinsamen Gegner, die alte Elite, ausschalten. - 2006/2007 kommt es zu Massenverhaftungen. Betroffen sind unter anderen hochrangige Generäle, Bürokraten, Journalisten und Universitätsdirektoren. Später sind es kurdische Gemeindepolitiker, Gewerkschafter und Linke. Ihnen werden Terrorismus und Putschpläne vorgeworfen. Die Gülen-Bewegung lässt ihre Staatsanwälte mit Sondervollmachten und illegalen Abhörmassnahmen arbeiten. Zudem fälschen sie Beweismaterial. Mit der Rückendeckung Erdogans bringen sie massenhaft Unschuldige hinter Gitter. - Nachdem der gemeinsame Feind ausgeschaltet ist, kommt es zum Streit: Gülen und Erdogan kämpfen um die Beute, um Pfründe und Posten im Staatsapparat. - Ende 2013 erklärt Erdogan Gülen den Krieg: Er droht, die Schulen und Nachhilfeeinrichtungen der Bewegung – das wichtigste Wirtschaftsreservoir und der Ort, an dem Gülen seinen Nachwuchs rekrutiert – zu schliessen. - Gülen kontert, die Staatsanwälte der Bewegung leiten ein Korruptionsverfahren gegen Erdogans engstes Umfeld ein. Erdogan spricht von einem Putsch durch die Justiz. |
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