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International «Viele Tunesier sind enttäuscht, dass sich wenig verändert hat»

Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur können die Tunesier ihr Parlament wählen. Dennoch werden viele von ihnen nicht an die Urne gehen. Warum das so ist, erklärt SRF-Korrespondent Michael Gerber.

SRF Online: In Tunesien finden die ersten freien Parlamentswahlen statt – knapp vier Jahre nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings. Wie ist die Stimmung im Land?

Michael Gerber

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Michael Gerber war von 2011 bis 2017 Frankreich-Korrespondent des SRF. Davor war der 46-Jährige vier Jahre Korrespondent in der Westschweiz und ebenfalls vier Jahre Redaktor und Reporter von «10vor10».

Michael Geber: Die Meinungen sind sehr geteilt. Zum einen kann heute jeder frei sagen, was er denkt oder hat das Recht, zu demonstrieren. Das sehen viele als grossen Fortschritt. Gleichzeitig sind viele Leute frustriert, dass es wirtschaftlich nicht schneller aufwärts geht. Doch grundsätzlich ist Tunesien auf dem Weg hin zu einer freien, demokratischen Gesellschaft – was man von den anderen Ländern des Arabischen Frühlings nicht eben behaupten kann.

Die Diktatur liegt erst vier Jahre zurück – dennoch könnte die Stimmbeteiligung unter 50 Prozent liegen. Wie erklärt sich das?

Viele Leute sind enttäuscht darüber, dass sich im Alltag wenig verändert hat. Die wirtschaftliche Lage vieler Tunesier ist immer noch schlecht, die Perspektiven haben sich kaum gebessert. Dazu kommt, dass im wirtschaftlichen Bereich noch immer ein Dickicht an Gesetzen herrscht: Ein eigenes Geschäft aufzumachen, ist schwierig bis unmöglich. Es hat sich wenig geändert, seit sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 selbst verbrannte wegen den Schikanen durch die Behörden.

Warum haben es die Regierungen nicht geschafft, die Probleme anzugehen?

Das lässt sich nicht von heute auf morgen lösen. Der Demokratisierungsprozess hat viel Energie absorbiert. Zudem gibt es noch immer Leute der alten Garde, die bei wirtschaftlichen Reformen dagegen halten und sich gegen eine Öffnung wehren.

Audio
Tunesiens steiniger Weg in die Demokratie
aus Rendez-vous vom 23.10.2014. Bild: Beat Stauffer
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 57 Sekunden.

Welche Partei hat die besten Chancen, aus den Parlamentswahlen als Sieger hervorzugehen?

Die beiden grossen Favoriten sind die islamistische Ennahda und die Mitte-Rechts-Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens). Wie gross der Vorsprung der einen oder anderen Partei ist, lässt sich kaum sagen, da in der heissen Phase des Wahlkampfs Umfragen verboten sind. Weil über 40 Parteien zu den Wahlen antreten, wird wohl keine der beiden die absolute Mehrheit erreichen. Vielmehr werden viele, kleinere Gruppierungen im Parlament vertreten sein.

Was versprechen Ennahda und Nidaa Tounes den Wählern?

Beim wichtigsten Wahlkampfthema, der Wirtschaftslage, ähneln sich die Programme sehr: Beide Parteien versprechen mehr Wohlstand, neue Stellen und eine Vereinfachung der Regeln für Gewerbler und Investoren. Gesellschaftlich sind die beiden Parteien allerdings sehr unterschiedlich. Während Ennahda konservativ ist, präsentiert sich Nidaa Tounes als fortschrittliche Partei. Und auch was das politische System betrifft, haben sie unterschiedliche Vorstellungen.

Ein Toter bei Schiesserei

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Bei einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Sicherheitskräften und mutmasslichen Terroristen ist in Tunesien ein Mensch getötet worden. Mehrere Personen wurden zudem verletzt. Die Nationalgarde hatte ein Gebäude umstellt, in dem sich Aufständische verschanzt hatten. Darauf kam es zur Schiesserei.

Wie sehen diese aus?

Die Ennahda will eine parlamentarische Demokratie, in welcher der Ministerpräsident vom Parlament gewählt wird und der Staatspräsident weitgehend zeremonielle Funktionen hat – so wie etwa in Deutschland. Nidaa Tounes hingegen will einen starken Präsidenten, der direkt vom Volk gewählt wird und weitreichende Kompetenzen hat, nach dem Vorbild Frankreichs. Das aktuelle System entspricht einem Kompromiss: Die stärkste Fraktion im Parlament wählt den Ministerpräsidenten; gleichzeitig wird der Staatspräsident vom Volk gewählt. Letzterer hat auch ein gewisses Mitspracherecht, etwa in der Aussen- und Verteidigungspolitik.

Tunesien ist laut einem Bericht der «New York Times» dasjenige Land, aus dem am meisten Dschihadisten nach Syrien reisen. Wie reagiert die islamistische Ennahda darauf?

Sie distanziert sich nur halbherzig davon. Zwar gibt sie sich als moderate islamistische Partei. Doch gibt es einzelne Politiker, die dazu aufgerufen haben, den Aufständischen in Syrien zu helfen. Die Dschihad-Rückkehrer sind ein Problem, welches das Land noch lange beschäftigen wird.

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