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Junge Eritreer sitzen hinter Schulbänken, daneben steht eine Lehrerin
Legende: Junge Eritreer beim Schulunterricht in einem Durchgangszentrum im Kanton Thurgau. Keystone
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Schweiz «80 Prozent der jungen Flüchtlinge sind traumatisiert»

Die Kantone tun sich schwer mit der Betreuung der vielen jungen Flüchtlinge. Es fehlt an Geld – aber nicht nur. Jürg Eberle vom St. Galler Migrationsamt befürchtet, dass viele in der Sozialhilfe landen werden.

Sie heissen Filmon, Daniel oder Reza. Sie sind 16, 17 Jahre alt, manchmal aber auch erst 13. Sie kommen aus Eritrea, Afghanistan oder Syrien. Und sie reisen alleine. In den letzten Monaten sind so viele junge Flüchtlinge in die Schweiz gekommen wie noch nie. Bis Ende Oktober waren es 1969; das sind mehr als doppelt so viele wie 2014 (siehe Grafik). Damals reisten 794 unbegleitete minderjährige Asylsuchende ein – UMA, wie sie in der Fachsprache heissen. Ein Schicksal in drei Buchstaben.

Die Kantone hatten sich in den letzten Monaten auf den Anstieg vorbereitet; dennoch kämpfen sie heute damit. In St. Gallen beispielsweise kommen die Jugendlichen im Zentrum Thurhof unter. Geplant war es für 27 Jugendliche, heute wohnen dort über 100. Einige musste Zentrumsleiter Markus Laib deshalb bereits umquartieren – in ein Zentrum für Erwachsene.

Legende:
Unbegleitete minderjährige Asylsuchende Der grösste Teil der jungen Flüchtlinge, die alleine in die Schweiz kommen, sind Knaben. Dieses Jahr machen sie 82 Prozent der minderjährigen Asylsuchenden aus. Staatssekretariat für Migration

Eine ganze Klasse

Dabei mangelt es in St. Gallen nicht nur an Platz, sondern auch an Geld. Denn der Bund zahlt den Kantonen eine fixe Summe von 6000 Franken pro Flüchtling – egal, ob es sich dabei um einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen handelt. «Doch die Betreuung von Jugendlichen ist sehr viel teurer», sagt Jürg Eberle vom St. Galler Migrationsamt. Im Thurhof wohnen die Jugendlichen in 4er-Zimmern und besuchen sechs Wochen lang erst einmal eine Eintrittsklasse. Dabei geht es vor allem darum, Deutsch zu lernen. Danach gehen sie in eine von drei Flüchtlingsklassen, in denen neben Deutsch auch Mathematik, Sport oder Kochen unterrichtet werden.

Ein weiteres Problem für die Kantone ist der Mangel an Lehrern und Betreuern. «Letzte Woche kamen acht Jugendliche gleichzeitig an», sagt Zentrumsleiter Laib. «Das macht bei uns mehr als eine Klasse aus.» Für eine neue Klasse brauche es Lehrer – und die seien nicht auf die Schnelle zu haben. «Wenn die Lehrer dann endlich da sind, muss ich schon wieder neues Personal beantragen.»

Spannungen nehmen zu

Die Stimmung unter den Jugendlichen sei grundsätzlich gut, sagt Laib. «Doch wenn die Gruppen grösser werden, nehmen auch die Spannungen zu.» Heute kommen auf einen Betreuer 15 bis 20 Jugendliche; zuvor waren es lediglich 10 bis 12. Das macht es schwieriger, auf die Einzelnen einzugehen. «Früher setzten wir uns dafür ein, dass die Jugendlichen beispielsweise im lokalen Fussballclub spielen konnten.» Dafür reicht die Zeit heute nicht mehr. «Der Fokus liegt darauf, Arbeit für sie zu finden.»

Video
Mehr Flüchtlinge aus Afghanistan
Aus 10 vor 10 vom 10.11.2015.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 54 Sekunden.

Dies ist denn auch die grösste Herausforderung: Dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen eine Ausbildung machen können. «Eine Lehrstelle bekommen nur die wenigsten», sagt Laib. Die Voraussetzungen, welche die Jugendlichen mitbringen, seien völlig unterschiedlich. «Einige waren über ein Jahr lang auf der Flucht, andere gingen nur vier Jahre lang zur Schule.»

Kurse als Velomechaniker

Entsprechend sei das Ziel, den Jugendlichen eine Anlehre zu vermitteln. Um sich darauf vorzubereiten, können sie im Thurhof Kurse in Velomechanik belegen, in Metallbearbeitung, im Gastrobereich oder in der Schneiderei. Doch die Zeit arbeitet gegen sie. Sobald sie 18 Jahre alt sind, müssen die jungen Flüchtlinge das Zentrum verlassen. Danach ist nicht mehr der Kanton für sie zuständig, sondern die Gemeinden.

Dort aber fehle es an der nötigen Betreuung, sagt Laib. Für die oftmals traumatisierten Jugendlichen habe die Sozialhilfe keinerlei Ressourcen. Mit dem Resultat, dass viele Flüchtlinge, die mit 16 Jahren in die Schweiz kommen, in der Sozialhilfe hängen bleiben dürften. Das sagt Jürg Eberle vom St. Galler Migrationsamt.

«Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben», so Eberle. «Heute ist es schon für einen Schweizer schwierig, eine Lehrstelle zu finden.» Bei Flüchtlingen kommt die Unsicherheit dazu, ob sie überhaupt in der Schweiz bleiben können. Denn mit der Änderung der Asylgesetzreform dürfen auch Jugendliche wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden, falls sich dort jemand um sie kümmert.

Zwei kleine Schritte

Zentrumsleiter Markus Laib setzt sich dafür ein, wenigstens einige der Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Erstens, schlägt er vor, sollten die Jugendlichen länger Hilfe erhalten. Heute erhalten sie Unterstützung durch die Betreuer im Jugendprogramm, die ihnen beispielsweise bei der Arbeitssuche helfen können – aber nur, wenn sie minderjährig sind. Laib schlägt vor, dass die neu geplanten Beistände den Jugendlichen unter die Arme greifen, bis diese wenigstens 20 Jahre alt sind.

Und zweitens, so Laib, müsste man die Firmen mit Beratung unterstützen. Damit diese Flüchtlingen einstellen, obwohl diese am Anfang vielleicht nicht alle Kriterien für eine Lehrstelle erfüllten. Mit einem solchen Schritt, so ist Laib überzeugt, würde man die Chancen der Jugendlichen verbessern – und einem Filmon, Daniel oder Reza eine Zukunftsperspektive bieten.

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