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Trauma bei Flüchtlingskindern «Sie schämen sich, überlebt zu haben»

Es sind Kinder, die Schreckliches erlebt haben, im Krieg, auf der Flucht. Hier müssen sie mühsam die Normalität lernen. Eine Psychologin über die Arbeit mit den Kindern.

SRF News: Catherine Paterson, wie viele der Flüchtlingskinder sind traumatisiert?

Catherine Paterson: Es gibt Schätzungen. Zwischen 50 und 80 Prozent der Kinder kommen traumatisiert in der Schweiz an. Sie haben im Heimatland und auf der Flucht so schlimme Sachen erlebt, dass sie diese nicht mehr richtig einordnen können.

Zum Beispiel?

Bei uns in der Gruppe ist ein Bub, *Karim. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an, einer Minderheit aus Afghanistan. Er war zwölf, als er floh, ganz alleine. Auf dem Weg hierher hat er gebettelt, wurde körperlich bedroht, missbraucht, eingesperrt, hatte Hunger.

Oder da ist *Yara aus Syrien, 7-jährig. Jahrelang war die Familie auf der Flucht. Unterwegs haben die Eltern im Chaos einer Grenzüberquerung das Mädchen verloren. Yara kam mit einer ihr unbekannten Tante in die Schweiz. Nach zwei Jahren fand die Familie in der Schweiz wieder zusammen.

Und dann merken die Lehrer, dass mit diesen Kindern oder Jugendlichen etwas nicht stimmt?

Die meisten Flüchtlingskinder gehen wahnsinnig gerne zur Schule, haben aber Konzentrations- und Lernschwierigkeiten. An einem Tag scheinen sie den Stoff verstanden zu haben, am nächsten ist alles wieder weg. Manche reagieren stark auf Auslösereize. Eine zuknallende Tür kann Panik auslösen. Yara hat Schlafstörungen, kann ihre Gefühle nicht zeigen. Karim hat extreme Stimmungsschwankungen, ist sehr traurig und im nächsten Augenblick wieder aggressiv.

Gibt es etwas, was diese Kinder gemeinsam haben?

Sie denken, sowieso keine Chance zu haben. Negative Gefühle dominieren: Sie schämen sich, überlebt zu haben oder es plagen sie Schuldgefühle. Auch Wut, Interessenlosigkeit und Angst sind da.

Diese Kinder kommen dann in die Gruppentherapie.

Nach einer Abklärung, ja. Bei Yara versuchen die Therapierenden das Einfrieren zu verhindern. Sie soll wieder über ihre Gefühle sprechen, Freude und Trauer zulassen können.

In der ersten Phase versuchen sie, ihr Vertrauen zu gewinnen, sie zu stabilisieren, ihr Geborgenheit und Struktur zu geben. Sie aktivieren die «guten» Erlebnisse. Yara hat beispielsweise ein Bild gemalt von der Zeit vor dem Krieg in Syrien. Zu sehen ist sie bei ihrem Grossvater auf dem Bauernhof, wie sie auf einem Pferd unter blühenden Apfelbäumen hindurch reitet.

Zuerst die blühenden Bäume, dann die schlimmen Bilder?

Jene Kinder und Jugendlichen, die wollen, sprechen über das Erlebte. Aber wirklich nur jene, die wollen.

Gruppentherapie für Kinder und Jugendliche mit Kriegstraumata und anderen traumatischen Belastungen

Die Schule der Stadt Zürich bietet zwei Therapiegruppen mit insgesamt 24 Plätzen an: eine für Kinder aus der Unter- und Mittelstufe sowie eine für minderjährige Jugendliche, die ohne Begleitung geflüchtet sind. Einmal pro Woche findet die Therapie statt. Ein Kind kann höchstens drei Jahre in einer Gruppe bleiben. Voraussetzung ist ein starker Leidensdruck und die Eignung des Kindes für eine Gruppentherapie.

Spielen bei Kindern Täter oder Hass eine Rolle?

Nicht im gleichen Ausmass wie bei Erwachsenen. Aber es ist ab und zu mal wieder ein Thema. Auch Kinder hadern mit dem Schicksal. Warum ausgerechnet ich? Solche Fragen tauchen schon auf.

Ein bisschen Hass auf die Täter ist gut?

Hass kann eine Kraft sein, die am Leben erhält. Hass, Wut und Trauer – diese Gefühle lassen wir zu, wir bleiben aber nicht lange in ihnen drin. Lieber gehen wir zu Phase drei. Dort geht’s darum, Strategien zu entwickeln. Karim erhält einen Werkzeugkasten mit auf den Weg.

Er lernt, aufkommende Traurigkeit zu erkennen und etwas dagegen zu unternehmen. Er weiss, was ihm hilft. Zum Beispiel Sport machen, mit Freunden abmachen oder Musik hören. Er kann Hilfe mobilisieren. Im Idealfall hat Karim wieder ein gutes Selbstwertgefühl und weiss, dass er selber etwas bewirken kann.

Leider ist das Asylverfahren mit viel Unsicherheiten verbunden und oft das Gegenteil von dem, was die Kinder bräuchten.
Autor: Catherine PatersonSchulpsychologin

Die Therapie ist auf maximal drei Jahre beschränkt. Entlassen sie die jungen Menschen mit einem guten Gefühl?

Für einige wenige braucht es eine Anschlusslösung. Aber die meisten Kinder und Jugendlichen können wir auf einen gesunden Kurs bringen. Wir können die richtigen Pflaster und Salben verteilen und die Verheilung der Narben eine Weile begleiten. Yara und Karim müssen die Narben aber selber pflegen, lebenslänglich.

Welche Rolle spielt dabei das Umfeld bei der Heilung?

Eine sehr wichtige. Die Eltern sind wichtig. Auch die Beistände wie bei Karim, der alleine da ist. Eine entscheidende Rolle kommt den Schulen zu, den Lehrpersonen und Hort-Betreuerinnen. Sie bedeuten für diese Kinder Normalität, Stabilität, Sicherheit. Leider ist das ganze Asylverfahren mit viel Unsicherheiten verbunden und oft das Gegenteil von dem, was die Kinder bräuchten. Karim und Yara haben Glück, sie dürfen in der Schweiz bleiben. Yaras Familie muss jetzt auch endlich nicht mehr von Notwohnung zu Notwohnung ziehen.

Warum kommen einige Kinder trotz schlimmer Erlebnisse ohne Störung davon?

Manche Kinder können traumatische Erfahrungen gedanklich einordnen, verarbeiten und Lösungen finden. Das ist eine Frage der Intelligenz und des Alters. Aber nicht nur. Auch die Qualität der Bindung zur Bezugsperson spielt eine wichtige Rolle. Und schliesslich auch der Charakter. Es zeigt sich: Wer das Gefühl hat, kompetent zu sein und die Anforderungen im Leben meistern zu können, ist eher davor geschützt, nach einem Trauma eine chronische Störung zu entwickeln.

Das Gespräch führte Christa Gall.

*Namen der Kinder und einzelne Begebenheiten wurden abgeändert.

Zur Person

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Zur Person

Catherine Paterson ist Schulpsychologin des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich und leitet das Projekt der Gruppentherapien für traumatisierte Kinder der Stadt.

Flüchtlingskinder malen

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Flüchtlingskinder malen

«Türkei – Tod – Griechenland»: so der Text auf einer Zeichnung eines syrischen Flüchtlingskindes. Die Bilder zur Ausstellung in Basel.

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