SRF News: Herr Schneebeli. Als ich in der Google-Suchmaske das Schlagwort ‚Kirche Zürich‘ eingeben habe, wissen Sie, auf welchen Link ich zunächst gestossen bin?
Matthias Schneebeli: Ich habe es ausprobiert – es ist ein privater Link zu einem kostenpflichtigen Kirchenaustritt.
Irgendwie bezeichnend, finden Sie nicht auch?
Das hat tatsächlich einen gewissen Symbolcharakter: Die Kirche könnte sich besser verkaufen. Vielleicht liegt uns das unternehmerische Denken nicht so.
Ihre Zahlen legen das zumal nahe. Die vier grössten reformierten Kirchen der Deutschschweiz nehmen jährlich mehr Austritte entgegen.
Dieser Trend überrascht mich nicht. Ich erlebe das auch in der Kirchgemeinde Wülflingen: Vor allem jüngere Kirchenmitglieder, 80er- und 90er-Jahrgänge, treten aus, aber auch ältere. Wenn der direkte Bezug zur Kirche fehlt, leuchtet vielen die Kirchenmitgliedschaft nicht mehr ein.
Wie äussern sich die vielen Austritte konkret?
Sie schlagen sich in einer tendenziellen Überalterung der Kirchgemeinde nieder. Gewisse Kirchengebäude sind schlechter genutzt, weil sie ursprünglich für mehr Personen gebaut wurden. Schliesslich spüren wir den Trend indirekt, wenn eine Kirchgemeinde mit immer weniger Personal das gleiche Angebot aufrecht erhalten muss. So bleibt weniger Zeit für die Menschen, und manchmal hört man die Klage, dass der Pfarrer nicht verfügbar sei, wenn man ihn braucht.
Welche Gründe machen Sie dafür verantwortlich, dass Ihnen immer mehr Menschen den Rücken zukehren?
Ein wichtiger Aspekt ist wohl, dass die Leuten keinen Sinn, keinen Zweck mehr in der Kirche und ihren Angeboten sehen. Religion und Glaube wird zur Privatsache. Gleichzeitig fragen sich Menschen heute eher, was ihnen eine Sache nützt. Wenn sie ihnen nichts bringt, wenden sie sich von ihr ab.
Die Kirche muss ihren Kernauftrag wahrnehmen: Verkündigung des Evangeliums und Dienst am Nächsten.
Die Situation birgt aber auch Chancen. Viele Erneuerungen innerhalb der Kirche entstanden aufgrund von Krisen, so etwa die Franziskaner oder die Reformation. Auch dort wurde intensiver gefragt, was denn der Sinn der Kirche sei. Oder man hat auf gesellschaftliche Missstände reagiert und neue Organisationen und Institutionen geschaffen.
Wenn wir diese Fragen also auch als Kirche stellen und den Menschen zuhören, glaube ich nicht, dass die gelebte Religion verschwindet. Im Idealfall werden einfach neue Formen entstehen.
Hat sich die seit Jahren angeschlagene reformierte Kirche allzu sehr angebiedert mit Kirchen-Discos, Tier-Gottesdiensten und diversen Formen der Selbst-Erfahrung?
Ja und Nein. Einerseits ist es wichtig, dass die Kirche fragt, was Menschen interessiert. Sonst spricht sie an ihnen vorbei und nimmt sie nicht ernst. Andererseits muss sie auch ihren Kernauftrag wahrnehmen: Verkündigung des Evangeliums, Dienst am Nächsten, Thematisierung von Gerechtigkeits- und Sinnfragen. Die beiden Aspekte in Bezug zu setzen, ist immer wieder neu eine Herausforderung der Kirche.
Ist die Kirche zu wenig politisch? Immerhin war ja Reformator Zwingli dafür bekannt, dass er demokratische Interessen mit christlichen Werten verknüpfte.
Tatsächlich denken wir heute vielleicht zu viel und machen zu wenig. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch nicht zu jeder politischen Frage öffentlich äussern. Sonst heisst es schnell: Die reden nur und handeln nicht.
Wir wollen richtig auf die Austritte reagieren. Das heisst, nicht beleidigt sein, der entsprechenden Person eine Resonanz geben.
Was können die Reformierten von den Katholiken lernen? Letztere haben einen stabileren Bestand.
Die Katholiken verfügen über ein Selbstverständnis, das weniger hinterfragt wird. Das kann vieles vereinfachen, weil gewisse Dinge für alle klar sind. Ein Nachteil daran: Kritik und Veränderung sind schwieriger. Wir Reformierten bleiben indes etwas stark im Kopf. Da könnten wir von den Katholiken, aber auch von anderen Religionen lernen, ganzheitlicher und handlungsorientierter zu werden. Ich bin überzeugt: Wer weiss, wo er in seinem Glauben steht, hat weniger Berührungsängste mit anderen Überzeugungen.
Welche konkreten Massnahmen ergreifen Sie, um weitere Austritte zu verhindern?
Wir wollen richtig auf die Austritte reagieren. Das heisst, sie als Ausdruck einer eigenen Haltung ansehen, nicht beleidigt sein und der entsprechenden Person eine Resonanz geben. Wir müssen noch mehr auf die Menschen und ihre Bedürfnisse hören. Die kirchlichen Räume sollten wir weiter in dem Sinn öffnen, dass hier Menschen nicht nur Religion und Gottesdienste erleben, sondern auch alltägliches Leben und Gemeinschaft darin stattfinden können. So könnten sich neue Formen des religiösen Zusammenlebens entwickeln.
Zu den Räumen der Kirche im eigentlichen Sinn: Wie steht es um die Nutzung der Immobilien, die doch für eine grössere Kirchgemeinde gebaut worden sind?
Zahlreiche Räume sind unterbenutzt, zum Teil veraltet und sehr unterhaltsaufwendig. Zudem müssten sie für heutiges Leben oder eine Umnutzung baulich angepasst werden – insbesondere viele Kirchenräume. Dabei stehen allzu oft denkmal- und heimschutzbedingte Vorgaben im Weg. So werden leider viele Kirchenräume zu schlecht nutzbaren Denkmälern.
Das Gespräch führte Christine Scherrer