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Schweiz Wenn die Eltern mit Exit sterben

Die Sterbehilfeorganisation ist ein Ausweg für Menschen, die todkrank sind oder keine Kraft mehr haben. 2015 begleitete Exit 200 Menschen mehr in den Tod als im Vorjahr. Zurück bleiben die Angehörigen, die mit dem Verlust zurecht kommen müssen. Wie zum Beispiel das Brüderpaar Felix und Kaspar.

Es war der 1. August, ein Geburtstag, das Wiegenfest der Schweiz. An diesem Tag teilte der Vater seinem Sohn Felix Aebi mit, dass er und die Mutter sich in einem Monat umbringen würden. «Mein Vater hat mich angerufen. Unglücklicherweise waren wir an dem Tag auch noch bei jemandem zu Besuch», erinnert sich Felix.

Das Gespräch habe nicht lange gedauert, der Vater habe einfach nur gesagt, der Entscheid sei endgültig. «Ich war sehr schockiert.» Das ist fünf Jahre her.

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«Angehörige werden bei der Sterbehilfe zu wenig betreut»
aus Echo der Zeit vom 29.03.2016. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 10 Minuten 29 Sekunden.

Heute sitzen Felix und sein Bruder Kaspar alleine am Esszimmertisch. Die Wohnung steht ganz im Westen Berns, das Stadtleben ist noch nicht vorgedrungen bis zu den Neubauten. Weiche Ledersessel, eine verschmuste Katze, zwei grosse, kräftige Männer. Das allerdings täuscht: Felix leidet an derselben fortschreitenden Nervenkrankheit wie seine Mutter. Es fällt ihm nicht leicht, das Mikrophon zu halten.

Unbeschwert dafür war früher das Familienleben. Die Söhne besuchten die Eltern oft. Dann brach beim Vater Hautkrebs aus. Unheilbar. Und die Mutter wurde immer schwächer, wollte nicht abhängig sein von Pflegern. Schliesslich – er war 81, sie 77 – die Entscheidung: Wir sterben mit Exit.

Nur Kaspar war informiert

Kaspar, mit heute 56 Jahren der jüngere Sohn, wusste von Anfang an Bescheid. Denn die Eltern wollten ihn, den Psychiater, an ihrem Sterbebett haben. «Das war sehr belastend für mich», sagt er. Noch mehr habe der Entscheid aber seine Partnerin belastet. Sie habe auch nach dem Suizid der Eltern immer wieder erzählt, «wie sie das innerlich umtreibt» – bis heute.

Belastend war es auch für den zwei Jahre älteren Bruder Felix. Allerdings in einem anderen Sinn: Er fühlte sich betrogen, hatte er doch erst Monate nach seinem Bruder vom bevorstehenden Selbstmord erfahren. «Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Ich habe versucht, es zu verstehen.» Dafür hätte er gerne mehr Zeit gehabt, nicht nur ein paar Wochen.

Sie haben sich ins Bett gelegt, haben die Substanz zu sich genommen und sind sehr rasch daran gestorben.
Autor: Kaspar Aebi Sohn der Verstorbenen

Darum der Brief an Exit: «Warum», fragte er, «lasst ihr die Angehörigen aussen vor?» Exit zeigte den Brief dem Vater und dieser zog sich zurück. «Er sagte, er wolle keine Einmischung unsererseits und wolle nicht mehr über diesen Entscheid sprechen», erzählt Felix und fügt an: «Ich fühlte mich ausgeschlossen.»

Felix sah seine Eltern nie wieder

Die Eltern und der Sohn sahen sich nie wieder, telefonierten nur noch. Bis heute wünscht sich Felix, Mutter und Vater hätten ihm einen Abschiedsbrief geschrieben.

Kaspar hingegen war da am Todestag, mit seiner Frau. Ruhig seien die Eltern gewesen, sagt er, über Alltägliches hätten sie geredet, sogar mit Humor. «Dann haben sie sich auf den Weg gemacht. Sie haben sich ins Bett gelegt, haben diese Substanz zu sich genommen und sind sehr rasch daran gestorben.»

Bis zum Schluss hätten die Eltern Verantwortung für ihr Tun übernommen, bis zum Schluss habe er es nachvollziehen können, sagt Kaspar. Anders sei das bei den Sterbehelfern gewesen: «Mit den Leuten von Exit hatten wir kaum zu tun», erinnert sich Kaspar. Sie hätten über Dinge geredet, die nach seinem Gutdünken in dem Moment nicht angebracht waren.

Fragen bis heute unbeantwortet

Zahlen steigen

Box aufklappen Box zuklappen

Im vergangenen Jahr haben sich in der Deutschschweiz und im Tessin 782 Menschen entschieden, mit Hilfe von Exit aus dem Leben zu scheiden. Dies entspricht einem Anstieg von rund 30 Prozent. Das Durchschnittsalter lag bei 77,4 Jahren. Seit Jahren verzeichnet Exit mehr Freitodbegleitungen und mehr Beitritte.

Die Familie Aebi machte es umgekehrt: Sie sprach nicht über Dinge, die sie vielleicht besser angesprochen hätte. Vor allem mit der Schwester redeten die Brüder wenig.

Sie leidet bis heute am meisten unter dem Selbstmord der Eltern. In der Familie unterhielten sie sich auch nicht über das, was Kaspar besonders beschäftigt: «Mein Vater war sehr ein dominanter Mensch», sagt er. Er fragt sich deshalb, in wieweit der Vater nicht auch gerade für die Mutter entschieden habe. Ein quälender Gedanke, bis heute.

Trotzdem: Der Freitod der Eltern habe auch etwas Bereicherndes. Er habe gezeigt, wie man selbstbestimmt stirbt. Felix hat mehr Zweifel als Kaspar: Es sei ein langer Prozess gewesen, das innere Einverständnis für den Entscheid der Eltern zu finden. Heute sei ihm das zu 80 Prozent gelungen, sagt Felix. 20 Prozent blieben als schaler Nachgeschmack zurück.

Da sind seine christlichen Moralvorstellungen, die ihn in ein Dilemma stürzen, wenn es um Selbstmord geht. Da ist auch diese Nervenkrankheit, die er von seiner Mutter geerbt hat und die ihn vielleicht eines Tages vor dieselbe Entscheidung stellen wird.

Beide Brüder denken oft an die Eltern, reden miteinander über deren Tod. Und beide sagen: «Es ist gut, gibt es Sterbehilfe – trotz allem.»

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