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Urs Bruderer In Bulgarien unterwegs: Jäger ohne Ziel

Vor der Parlamentswahl ist Urs Bruderer eine Woche durch Bulgarien gereist. Was hat er dort erlebt? Welche Begegnungen haben ihn zum Nachdenken gebracht? Wie viel Material hat er mitgebracht – und was ist daraus geworden? Er berichtet.

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In der Rubrik «Backstage» schreiben SRF-Mitarbeitende über Erlebnisse aus ihrem Berufsalltag. Eine Übersicht aller Kolumnen finden Sie hier. Und worüber möchten Sie eine Backstage-Geschichte lesen? Schreiben Sie uns.

Eine ganze Woche war ich in Bulgarien unterwegs – anlässlich der Parlamentswahl diesen Sonntag. Die Ausbeute waren 51 Aufnahmen. Die kürzeste dauert 24 Sekunden. Sie entstand in Charmanli, einer armen Stadt in der Oblast Chaskovo, die, obwohl so gross wie der Kanton Bern, im Lonely-Planet-Führer über Bulgarien und Rumänien nicht vorkommt. Man hört eine junge Frau sagen, dass sie noch nicht entschieden habe, wen sie wähle, und dass der Kandidat Veselin Mareshki bis jetzt nur Versprechungen gemacht habe. Die längste Aufnahme dauert über anderthalb Stunden. Es ist ein Interview mit der Leiterin einer Organisation von Opfern eines vor drei Jahren absichtlich herbeigeführten Bankencrashs.

Beide Aufnahmen werde ich möglicherweise nie gebrauchen. Die kurze ist langweilig. Die lange ist sehr interessant. Doch die Geschichte dahinter ist kompliziert und auch für Bulgarinnen und Bulgaren kaum zu durchschauen. Ich habe 18 Stunden Tonmaterial gesammelt in Bulgarien. Hören wird man auf SRF ein paar Minuten. Was mache ich da?

Ich bin ein Jäger ohne klare Vorstellung seiner Beute, offen für das Unvorhersehbare.

Anders wäre die Reportage über das Dorf Potop nie zustande gekommen, das von allen Bewohnern jüngeren und mittleren Alters verlassen wurde und jetzt an ein Altersheim erinnert, das von den Insassen selbst geleitet wird. Auch die Aufnahme in einer Dorfkneipe an der Grenze zur Türkei wäre mir anders nicht gelungen. Drei Männer erzählen da, angefeuert von bulgarischem Whisky, was Flüchtlinge, Schlepper und Zöllner wirklich treiben rund um den Grenzzaun – und wie man in den guten, alten Zeiten des Sozialismus noch alles im Griff hatte. Diese Aufnahme werde ich gebrauchen.

Doch auch die beiden andern Begegnungen waren wertvoll.

Weil die junge Wählerin nicht verraten wollte, wem sie ihre Stimme gibt, fing ich an, über die Gründe dafür nachzudenken.

Und ich fand viele Antworten im Verlauf meiner Recherche: Weil in manchen Unternehmen die Chefs den Angestellten vorzuschreiben versuchen, wen sie wählen sollen. Weil manche Kandidaten Stimmen kaufen – und manche Wähler sich kaufen lassen. Weil manche Bürgermeister ihre Mitbürger regelrecht zwingen, ihre Partei zu wählen.

In Bulgarien gibt es viele Gründe, sein Wahlgeheimnis zu hüten; schiere Vorsicht ist einer.

Der Bankenkollaps, das zeigte sich in vielen weiteren Gesprächen, gehört für Bulgarien zu den definierenden Ereignissen der letzten Jahre. Land und Leute verloren Milliarden, einige Wenige strichen grosse Profite ein. Und klar ist auch, warum die Geschichte undurchsichtig bleibt: Weil die Behörden selber die Geschichte nicht richtig aufklären wollen. Es fehlt am politischen Willen zur Wahrheit – warum wohl?

Bulgarien wird nur sehr oberflächlich behandelt in westeuropäischen Medien. Zu klein ist das Land. Sogar über den gewaltigen Bankenkollaps wurde nur spärlich berichtet. Auch ich kann die Hintergründe dieses Skandals nicht ergründen. Aber ich weiss jetzt, welchen Stellenwert er für aufgeklärte Bulgarinnen und Bulgaren hat und wie dunkel und ungeheuer ihre Spekulationen dazu sind.

Solches Wissen schlägt sich oft nicht direkt nieder in meiner Berichterstattung. Aber es erlaubt mir, Ereignisse einzuordnen und Akteure einzuschätzen.

Meine Radiobeiträge sind das Resultat eines grossen Konzentrationsprozesses, von dem die Hörerinnen und Hörern im besten Fall nicht mehr bemerken als das Gefühl, eine gute Geschichte gehört zu haben. Je mehr man weglässt, desto besser das Resultat. Aber man muss das Material zuerst sammeln, damit man es später weglassen kann.

Manchmal steuert man auch ein klares Ziel an und findet etwas anderes.

So ging ich der derzeit beliebten These nach, wonach die bulgarische Politik sich Russland zuwende. Doch alle Gespräche darüber landeten früher oder später bei der Enttäuschung über die untätige oder gar Schaden anrichtende EU. Daraus wurde eine Geschichte für das «Echo der Zeit». Eine der wenigen Geschichten zu Bulgarien. Kaum ein Hörer würde es bemerken, wenn der kleine und hinterste Winkel des Balkans weiss bliebe auf der Landkarte der Berichterstattung von Radio SRF. Was also mache ich da?

Manchmal gehen wichtige Entwicklungen von den Rändern aus. Bulgarien und Osteuropa etwa lebten im postfaktischen Medienzeitalter, als es den Begriff noch gar nicht gab. Bulgarien zeigt, wie wichtig die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltentrennung sind – und wie fragil liberale, demokratische Gesellschaften. Bulgarien ist Mitglied der EU, des wichtigsten Clubs Europas. Manche Schweizer Unternehmen haben da investiert. Bulgarien gehört in unsere Berichterstattung. Nicht oft, aber wenn, dann gut. Ich erkunde das Land, wie nur Journalisten es machen. Ich spreche mit einfachen Leuten und Wissenschaftern. Ich lasse mich von Neugierde leiten und von drängenden geopolitischen Fragen. Ich suche eindrückliche Geschichten und grosse Zusammenhänge.

Ein, vielleicht zwei solche Reisen durch Bulgarien liegen in einem Jahr drin. Dass ich machen kann, was ich da mache, gehört zu dem, was SRF ausmacht.

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