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Krankenkassen verweigern lebenswichtiges Medikament
Aus Kassensturz vom 21.06.2016.
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Versicherungen Seltene Lichtkrankheit: Krankenkassen verweigern Medikament

Die Situation ist unerträglich: Von einem Tag auf den anderen entziehen mehrere Krankenkassen Patienten mit der seltenen Lichtkrankheit das lebenswichtige Medikament. Grund: Der Hersteller hat den Preis verdreifacht. Das BAG stellt gegenüber «Kassensturz» eine baldige Gesetzesanpassung in Aussicht.

Nadia Coutellier ist eine von rund 60 Menschen in der Schweiz, die an Erythropoetischer Protoporphyrie (EPP) leiden. Eine sehr seltene und äusserst schwere Licht-Unverträglichkeit. Muss sie an sonnigen Tagen raus, vermummt sie sich mit Handschuhen, Schal, Hut und Sonnenschirm. Denn: Schon wenige Minuten Sonnenlicht lösen im Blut und der Haut eine toxische Reaktion aus. «Ich habe dann mehre Tage äusserst starke Brandschmerzen, wie tausend Nadelstiche. Nichts hilft dagegen und ich möchte mir am liebsten die Haut wegreissen.»

Einzige Arznei die hilft ist sehr teuer

Seit einigen Jahren gibt es das Medikament Scenesse, das Betroffenen hilft, Licht länger zu ertragen. «Das Mittel hat mein Leben total verändert. Als ich das erste Mal an der Sonne spazieren konnte, das war unbeschreiblich», sagt Nadia Coutellier im «Kassensturz». Doch Scenesse ist nicht billig. Eine Jahresdosis kostete bislang rund 25‘000 Franken.

Hersteller verdreifacht den Preis

Der australische Hersteller Clinuvel hat den Preis von Scenesse kürzlich aber auf einen Schlag verdreifacht. Neu kostet die Jahresdosis 75‘000 Franken. Mit fatalen Folgen für EPP-Patienten. Viele Kassen zahlen die höheren Kosten nicht mehr. Die Preiserhöhung sei ohne ersichtlichen Grund erfolgt und inakzeptabel, sagen dazu beide Schweizer Krankenkassenverbände Curafutura und Santésuisse. «Der Hersteller hat insbesondere keine Daten geliefert, dass dieses Medikament jetzt viel besser sein sollte», sagt Pius Zängerle, Direktor von Curafutura. Clinuvel sei ausserdem nicht zu Preisverhandlungen bereit, kritisieren mehrere Kassen gegenüber «Kassensturz».

Ausnahmeregelung bei schweren Krankheiten möglich

Das Problem: Scenesse ist in der Schweiz nicht offiziell zugelassen. Krankenkassen müssen es deshalb nicht zwingend vergüten. Artikel 71ab der Krankenkassenverordnung sieht jedoch eine Vergütung vor, wenn von der Arznei «ein hoher therapeutischer Nutzen» zu erwarten ist und wenn es sich um eine schwerwiegende oder tödliche Krankheiten handelt. Der Entscheid, ob das Verhältnis von Nutzen und Kosten gegeben ist, fällen die Kassen allerdings selber.

Katastrophe für Betroffene

Einige Krankenkassen verweigern nun die Übernahme der höheren Kosten, andere aber nicht. Das bestätigt eine Umfrage von «Kassensturz». «Bei mir melden sich täglich verzweifelte Betroffene, die nicht mehr weiter wissen», sagt Rocco Falchetto, selber EPP-Patient und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Porphyrie. «Es ist brutal, den Geschmack eines normalen Lebens gekostet zu haben und dann wieder in die Hölle der Schmerzen und der Angst vor dem Licht geworfen zu sein.» Unverständlich sei, dass einige Kassen die Behandlung weiterhin vergüten, andere aber nicht mehr. «Das ist für mich eine Diskriminierung, und Ungleichbehandlung», so Falchetto.

Die Krankenkassen weisen die Kritik zurück. Man müsse jeden Fall individuell beurteilen. Deshalb könne es bei Scenesse zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen.

Einheitliche Entscheide gefordert

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Krankenkassen verweigern lebenswichtiges Medikament
aus Espresso vom 21.06.2016.
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Der Fall von Scenesse sei exemplarisch, sagt Alfred Wiesbauer von Pro Raris, der Allianz für seltene Krankheiten. Wenn es überhaupt ein Medikament für eine solche Krankheit gebe, sei es oft nicht zugelassen und werde nach Artikel 71ab vergütet – oder eben nicht.

Es gebe so oft Entscheide, die für die Betroffenen nicht nachvollziehbar seien. Es dürfe aber nicht sein, dass jede Kasse für sich entscheide, so Wiesbauer: «Wir schlagen vor, dass man eine zentrale Stelle kreiert, die eine «Unité de doctrin» schafft und einheitlich und für alle Kassen entscheidet.»

Bundesamt für Gesundheit: Baldige Anpassung von Art. 71ab

Die Situation der Betroffenen sei sehr schwierig, räumt das Bundesamt für Gesundheit BAG ein. Es müsse das Ziel sein, dass Patienten schnell wissen, ob das Medikament vergütet werde oder nicht. Aufgrund der Preiserhöhung müssten die Versicherer nun aber für Scenesse das Kosten-Nutzen-Verhältnis neu beurteilen.

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Allerdings: Das BAG stellt gegenüber «Kassensturz» eine baldige Anpassung des entscheidenden Artikels 71ab in Aussicht. Der Bundesrat soll bereits in wenigen Wochen über eine entsprechende Änderungen entscheiden, bestätigt BAG-Sprecher Daniel Bach: «Änderungen, die wirklich sehr klare Grundlagen legen für den Entscheid, ob ein Medikament vergütet wird. Und vor allem auch, was passiert, wenn man keine Verhandlungslösung findet mit dem Hersteller, wie dann der Preis festgesetzt wird.»

Drastische Preiserhöhung: Hersteller schweigt

Warum die australische Pharmafirma Clinuvel den Preis von Scenesse auf einen Schlag verdreifacht hat, ist nicht klar. Die Firma, die auch einen Sitz in der Schweiz hat, kommentiert den Entscheid nicht. Clinuvel hat mehrere Anfragen von «Kassensturz» nicht beantwortet.

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