Man sah sofort, dass der Kasperl an Fäden hing, das Meer aus einer schimmernden Plastikfolie bestand und Jim Knopf statt echter Haare nur aufgeklebte Wolle trug.
Unserer Fantasie tat dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: Sobald sich jeweils die beiden Kisten-Türen mit dem schräg gedruckten Schriftzug auf dem Bildschirm öffneten, standen wir im Bann dieser charmanten Holz-Figuren.
Blick hinter die Kulissen
Auch Thomas Hettche, geboren 1964, war als Kind ein treuer Fan der Augsburger Puppenkiste. Die Motivation, darüber einen Roman zu schreiben, entstand aber nicht aus sentimentalen Gründen. Ihn interessierte die Geschichte dahinter.
Eine Bekannte hatte ihm von der Familie Oemichen erzählt, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Theater aufgebaut hatte. «Ich wollte herausfinden», sagt Hettche, «in welchem Umfeld diese Puppen entstanden sind, und aus welchem Geist heraus die Bühnen-Stücke geschrieben wurden.»
Die zwei ersten Marionetten
Thomas Hettche blendet im Roman «Herzfaden» in die 1940er-Jahre zurück. Hannelore alias Hatü und ihre Schwester Ulla Oemichen waren damals noch Kinder. Sie erlebten im Dritten Reich, wie plötzlich Mitschülerinnen aus dem Unterricht verschwanden, jüdische Geschäfte angezündet wurden und ihr Vater Walter an die Front musste.
Monatelang hörten sie nichts von ihm. Er geriet in Kriegsgefangenschaft. Eines Tages stand er wieder vor der Tür und brachte zwei Marionetten mit: einen Storch und einen Gevatter Tod. Ein Soldaten-Kollege hatte sie für ihn geschnitzt.
Es war der Anfang der familiären Leidenschaft. Die Oemichens stellten dann aus unterschiedlichen Materialien Puppen her, improvisierten im Wohnzimmer erste Aufführungen von «Hänsel und Gretel» oder «Der gestiefelte Kater».
Jugend im Faschismus
Thomas Hettche interessierte sich auch deshalb für das Thema, weil seine Mutter den genau gleichen Jahrgang hatte wie Hatü Oemichen, 1930: «Sie wuchsen im Faschismus auf und wurden dann 1945 wie betäubt ins Leben entlassen.»
Diese Menschen hätten sich von der Generation ihrer Eltern verraten gefühlt: «Jahrelang teilten sie die Begeisterung für Deutschland, um dann im Nachhinein zu realisieren, dass ihre Faszination für eine böse Sache missbraucht worden war.»
Geschichten von Patchworkfamilien
1948 gründeten Rosa und Walter Oemichen, beide Schauspieler, die Augsburger Puppenkiste. Zum neuen Ensemble gehörten – neben Hatü und Ulla – vor allem deren jungen Kolleginnen und Kollegen. «Sie waren es, die nach Stoffen suchten, die ihrer Zeit entsprachen», sagt Thomas Hettche.
Legendär sei 1951 die Aufführung des «Kleinen Prinzen» von Saint-Exupéry gewesen. «Auffallend auch die vielen Geschichten von Patchworkfamilien: Nehmen wir Jim Knopf oder Urmel, die beide ohne biologische Eltern aufwuchsen.»
Thomas Hettche sieht darin auch ein Bekenntnis der damaligen Jugendlichen zu neuen Lebensmodellen: «Sie hatten nach dem Faschismus enorme Probleme, die Väter noch als Autoritätspersonen anzuerkennen.»
Fernsehen als Chance
So entpuppt sich die scheinbar altmodische Augsburger Puppenkiste im Rückblick als hochmoderne, engagierte Truppe am Puls ihrer Zeit, die auch mutig den Sprung ins neue Medienzeitalter wagte.
Die Oemichens sahen im Angebot des Hessischen Rundfunks, der in den 1950er-Jahren die Aufführungen ins Fernsehprogramm übernehmen wollte, eine Chance. Sie legten damit den Grundstein für ihre grosse Popularität, die bis in die Gegenwart reicht.