Von allen osteuropäischen Filmlandschaften erhält Ungarn zurzeit besonders viel westliche Aufmerksamkeit.
Das Holocaust-Drama «Son of Saul» von Lázló Nemes gewann 2015 einen Oscar, und im Februar 2017 wurde die Regisseurin Ildikó Enyedi für ihre tragikomisch-verträumte Romanze «On Body and Soul» an der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.
Einer der beiden Spielfilme befasst sich mit Konzentrationslagern, im anderen geht es um einen Schlachthof. In ihrer Ausdrucksweise könnten die beiden Filme nicht unterschiedlicher sein.
Eine Gemeinsamkeit haben die beiden Filme aber. Sowohl Nemes als auch Enyedi beziehen interessante Positionen zu zivilisatorischen Grundfragen und tun dies mit messerscharfem Intellekt, aber auch mit einer klaren Vorstellung von menschlicher Würde und einer atemberaubend sicheren Handhabe ihrer cineastischen Stilmittel.
Hohe Standards, grosse Talente
Der Fokus «Neue Welt Sicht» am Zurich Film Festival ist dem ungarischen Filmschaffen der letzten Jahre gewidmet. Und diese Selektion von rund einem Dutzend Filmen bestätigt es: Nemes und Enyedi sind keine Einzelfälle.
Ungarn hat in Sachen Film nicht nur Talente zu bieten, sondern auch hochstehende Ausbildungsmöglichkeiten und Förderstrukturen, in denen sich die Filmschaffenden auf hohem Niveau entfalten können.
Autoritärer Staat, eifrige Filmemacher
Wer nun allerdings die derzeitigen politischen Verhältnisse in Ungarn kennt, horcht auf: Das Land wird autoritär und nationalkonservativ geführt.
Ministerpräsident Viktor Orbán liebäugelt mit der Todesstrafe, hält syrische Flüchtlinge an der serbischen Grenze mit einem Zaun auf und würgt die freie Presse ab. Wie geht das mit der Hochkonjunktur des ungarischen Films zusammen?
Kino hat Tradition – und Narrenfreiheit
Erklären kann man dies etwa mit dem historischen Hintergrund. Das Filmschaffen spielt in Ungarn schon seit den Stummfilmtagen eine wichtige Rolle. Das Ansehen der Kunstform ist hoch – Ungarn hat im Verlauf seiner schmerzhaften Geschichte immer wieder Trost und Erleichterung im Kino gefunden.
Daher hat die heutige staatliche Filmförderung ein Gespür für vermarktbare Qualität und weiss, dass gehaltvolles Kino auf dem internationalen Parkett dem Image des Landes letztlich dient. Hierfür nimmt sie auch in Kauf, dass in subventionierten Filmen systemkritische Töne angeschlagen werden, oder dass sich Filmschaffende in der internationalen Presse lautstark von der Regierung distanzieren.
Indirekte Kritik mit cineastischem Gespür
Gleichzeitig fällt aber auch auf: Die neuen ungarischen Filme sind nur in den wenigsten Fällen ausformulierte Kommentare zur politischen Lage des Landes.
Sie thematisieren zwar Lücken im Sozialsystem und machen klare Anspielungen auf amtliche Korruption, bleiben dabei aber gern allegorisch. Direkte Angriffe sind selten.
Diese Situation ist in der ungarischen Filmgeschichte nicht neu: Bereits in den 1960er-Jahren liess das damals kommunistische Regime genialen Regisseuren wie Károly Makk, Istvan Szábó, Miklós Jancsó und István Gaál eine relativ freie Hand – im Vertrauen darauf, dass diese Künstler aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit vom Staat weniger Ärger machen würden als verbitterte Schriftsteller oder aufmüpfige Journalisten.
Stolz auf ihre Kunst
Insofern könnte man sagen, die Geschichte wiederholt sich: Ungarische Filmschaffende sind meistens zu stolz auf ihre Kunst, um militante Pamphlete herzustellen.
Sie wollen die Menschen mit ihrer Poesie, ihrer Ästhetik, ihrem Hang zum Surrealismus und ihrem köstlichen schwarzen Humor berühren – im berechtigten Vertrauen darauf, dass das Publikum im In- und Ausland sehr wohl zwischen den Zeilen lesen kann.
Das 13. Zurich Film Festival dauert noch bis am 8. Oktober. «On Body and Soul» von Ildikó Enyedi kommt am 7. Dezember in die Schweizer Kinos.