Vor sechs Jahren zeigte der chinesische Regisseur Ying Liang in Locarno seinen Film «When Night Falls». In der Folge wurde ihm die Einreise nach Festlandchina verboten. Nun ist der Regisseur, der inzwischen in Hongkong lebt, mit seinem neuen Film «A Family Tour» zurück in Locarno.
SRF: Fürchten Sie wegen Ihrem neuen Film wieder negative Folgen?
Ying Liang: Bisher ist noch nichts passiert. Wir haben versucht, die Produktion geheimzuhalten. Nun gehen wir mit dem Film an die Öffentlichkeit. Aber das Schlimmste, was passieren könnte, wäre nochmals das Gleiche wie bei «When Night Falls». Das ist nicht so wichtig.
Macht es Ihnen denn nichts aus, dass Sie nicht mehr nach China einreisen können?
Im Alltag stört es mich nicht so sehr. Aber meine Eltern werden älter und vielleicht mal krank. Darüber darf ich nicht dauernd nachdenken – sonst könnte ich kein normales Leben mehr führen.
Sehen Sie sich eher als Aktivist oder als Filmemacher?
Ich mache Spielfilme, keine Dokumentarfilme. Aber ich erzähle immer von sozialen Realitäten. Kunst kann eine aktivistische Funktion haben. Sie kann etwas, was reine Politik nicht kann: Sie kann verändern, was Menschen fühlen.
Nach den Ereignissen um «When Night Falls» habe ich mich gefragt, ob ich weiter Filme machen soll. Die Antwort ist ja.
Ich China entscheidet ein Komitee darüber, welche Filme gezeigt werden dürfen. Welche Kriterien muss ein Film dafür erfüllen?
Es steht nirgendwo, was die genauen Regeln sind – worüber man sprechen darf und worüber nicht. Letztes Jahr wurde ein neues Filmgesetz erlassen. Aber es gibt keine eindeutigen Kategorien wie zum Beispiel in Hongkong oder den USA. Wir müssen also raten. Das führt zu einer Art Selbstzensur. Wir müssen heikle Themen meiden.
Was denken Sie über diese Selbstzensur?
Es ist ein Dilemma. Wenn man es nicht tut, erreicht der Film weniger Menschen. Aber wenn man es tut, schränkt man sich selbst ein.
Seit ihrer Verbannung leben Sie in Hongkong. Wie sieht die Situation dort aus?
Ein Beispiel: Ich unterrichtete in Hongkong an einer Filmschule. Aber letztes Jahr bekam ich dort keinen Vertrag mehr. Das hat niemanden überrascht, andere Lehrer haben das gleiche erlebt. Die Leute gewöhnen sich an diese Entwicklungen.
Glauben Sie, dass es eine Veränderung geben kann?
Die Journalisten, Künstler und Anwälte, die sich in der sozialen Bewegung engagiert haben, sind alle im Gefängnis oder im Exil. Die Menschen, die in diesem Bereich Erfahrung haben, können nichts mehr machen.
Nach der Studentenbewegung 1964 hat der internationale Druck dazu geführt, dass die Regierung gewisse Freiheiten gewährt hat. Aber diese Freiheiten gibt es nicht mehr. Ich erwarte keine bessere Zukunft.
Das Gespräch führten Cynthia Ringgenberg und Britta Gfeller.