Wer mit den USA nichts am Hut hat, kann auch mit Clint Eastwood nichts anfangen. Weil er über sein Land erzählt, über das, was es bewegt, was es antreibt.
Als Schauspieler und Regisseur beschäftigt er sich mit den amerikanischen Mythen und ihren Idealen, die die Kultur der USA bis heute prägen, die sich während des Kampfes um die Unabhängigkeit und der anschliessenden Vereinnahmung des Westens gebildet hatten und die Autoren und Filmemacher im 19. und 20. Jahrhundert ausformulierten.
Freiheit und Individualismus
In Clint Eastwoods Geschichten geht es um Freiheit, im Sinne «frei bei Entscheidungen», «frei im Recht eine Waffe zu tragen», «befreit von der Macht einer übermächtigen Zentralregierung».
Es geht auch um Individualismus, um den Glauben, dass ein Mann den Unterschied machen und alles erreichen kann.
Der Patriot und überzeugte Republikaner Clint Eastwood wirft seit seinen Anfängen einen Blick auf diese Dinge: begeistert, kritisch, reisserisch, satirisch, dokumentarisch.
Der Western ist tot, es lebe der Western
Er schaffte in den 1960ern, 1970ern und 1980ern ikonische Figuren, die er in den Mythos des Wilden Westens integrierte. Zu einer Zeit als Cowboy-Dramen im Kino nicht mehr gefragt waren und die US-Gesellschaft sich und ihre Werte in Frage stellte.
Clint Eastwoods Figuren sind uramerikanisch. Seine Geschichten haben eine erzählerische Struktur, die in hundert Jahren durch Zeitungsartikel, Groschenhefte, Comics und Kinofilme entstanden ist. Es sind im Kern Erlöserstorys, die in den USA in Western, Superheldenabenteuern oder Krimis bis heute immer wieder erzählt werden.
Das Schema: Ein Einzelgänger kommt mit einer korrupten und kaputten Zivilisation in Kontakt, in der die Gemeinschaft durch das Böse drangsaliert wird und setzt seine Form der Gerechtigkeit durch. «American Monomyth» nennt man das in der Wissenschaft. Ob die Filme im 19. oder 20. Jahrhundert angelegt sind, spielt dabei bei Clint Eastwood keine Rolle.
Magnum Force
Ein gutes Beispiel: Seine Actionfilme über den Polizisten «Dirty» Harry Calahan, die im San Francisco der 1970er und 1980er spielten.
Obwohl ein Angestellter der Stadt, jagte Dirty Harry Kriminelle nach eigenen Regeln, mehr Vigilant als Verbrechensbekämpfer. In der Hand stets ein Smith & Wesson Model 29, ein Trommelrevolver, der aussieht wie die Colts der Cowboys.
Dirty Harry und seine Filmbrüder aus Clint Eastwoods Universum besitzen mythische Qualitäten, weil sie weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft haben. Sie tauchen auf, werden mit einem Problem konfrontiert, lösen es, meist mit Gewalt, und verschwinden wieder in dem Nichts, aus dem sie gekommen sind.
Neue Mythen
Ab 2006 hat Clint Eastwood seine Perspektive verändert. Zwar bleibt er auch in seinem Spätwerk im Kern den Erlöserstorys treu und beschäftigt sich weiterhin mit den amerikanischen Idealen von Freiheit und Individualismus. Aber er erzählt auf einmal von realen Menschen, die sich in aussergewöhnlichen Situationen behaupten müssen.
Wie zum Beispiel von Chris Kyle, dem erfolgreichsten Scharfschützen des US-Militärs. Oder von den Soldaten Spencer Stone, Alek Skarlatos und dem Studenten Anthony Sadler, die 2015 in einem Schnellzug einen Attentäter überwältigt hatten.
Legenden entstehen
Indem er die wahren Geschichten dieser Männer auf die Leinwand bringt, macht er sie zu Helden. Damit folgt er einer alten amerikanischen Tradition.
Denn Erlebnisse Einzelner wurden in den USA schon immer schnell zu Geschichte und Geschichten gemacht. Indem Autoren normale Menschen zu Legenden schrieben.
Die Erfindung des Buffallo Bill
Der Reporter Ned Buntline beispielsweise veröffentlichte Ende des 19. Jahrhunderts die Erlebnisse des unbekannten Scouts und Büffeljägers William F. Cody. Die Tatsachen waren Ned Buntline dabei nicht so wichtig. Die Sensation zählte.
Mit einem Buch und einem Theaterstück verwandelte er den No-Name in den legendären Buffalo Bill, eine angeblich grosse Gestalt in der Eroberungsgeschichte des Westens. Ein mutmassliches Vorbild an Mut, Taten- und Freiheitsdrang, einer, der geholfen haben soll, dass Land gross zu machen.
Das kam bei der Leserschaft an. Buffalo Bill wurde der erste Popstar der USA. Er gründete einen Wild-West-Zirkus und reiste damit um die Welt. Durch Buntline war er für immer verknüpft mit dem Gründungsmythos der USA.
William F. Cody war kein Einzelfall. Männer wie der Sheriff Wyatt Earp oder der Bandit Jesse James wurden genauso in den Heldenhimmel geschrieben.
Ohne Alkohol geht nichts
Dieser Prozess ist Clint Eastwood bewusst. Der Legendenbildung im sensationslüsternen Ned-Buntline-Stil hat Clint Eastwood im oscarprämierten Western «Unforgiven» von 1992 kritisch analysiert.
Die Helden des Films sind berühmte Revolverhelden, allesamt erfunden, allesamt armselig, versoffen oder brutal. Einer der Coltschwinger reist mit einem Autor von Groschenheften durch den Westen und lässt ihn seine Heldentaten aufschreiben, die, wie sich herausstellt, erfunden oder übertrieben sind.
Dem Autoren ist das egal. Ihm geht es um Ruhm und Geschäft, nicht um seriöse Geschichtsschreibung. Wie bei den realen Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert.
Sensationsgier und Profitdenken
Clint Eastwood zeigt in «Unforgiven», wie die Gründungsmythen seines Landes aus Erfindungsreichtum, Sensationsgier und Profitdenken entstanden sind, stellt sie in Frage, aber zerstört sie nicht. Weil er an sie glaubt und deren Werte schätzt.
Und trotz seiner kritischen Analyse: Im Kern hat Clint Eastwood mit dem Scharfschützen Chris Kyle und den anderen im Prinzip das Gleiche getan, was über hundert Jahre zuvor Ned Buntline gemacht hatte. Nicht nur, weil er sie einem breiten Publikum vorstellte.
Helden spielen sich selbst
Im Spielfilm «The 15:17 to Paris» von 2018 ging Clint Eastwood so weit, dass er Spencer Stone, Alek Skarlatos und Anthony Sadler als Hauptdarsteller besetzte und sie ihre Heldentat im Zug nachspielen liess.
1873 hatte Ned Buntline William F. Cody auf eine Bühne gestellt, wo der Büffeljäger seine Abenteuer zum Besten gab.
Der entscheidende Unterschied zu Ned Buntline liegt in der Erzählweise. Clint Eastwood verzichtet auf Übertreibungen. Der Filmemacher zeigt seine Figuren zutiefst menschlich, mit all ihren Fehlern und versucht den historischen Fakten gerecht zu werden.
Er vertraut darauf, dass die Kraft des Kinos die realen Menschen grösser macht als das Leben.
Happy Birthday, Clint
Clint Eastwood erzählt als amerikanischer Regisseur, Schauspieler und Produzent seit über fünf Jahrzehnten von seinem Land, seinen Leuten und seinen Geschichten. Klar, gradlinig und ohne Schnickschnack.
Auch wenn es nicht seine Absicht war: Mittlerweile ist er selbst zu einem Mythos der amerikanischen (Film-)Geschichte geworden.