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Film & Serien Die Geschichte lauert im Keller des Nachbarn

Eine Kindergeschichte, die moralische Grenzen auslotet: Mit «The Harvest» hat John McNaughton einen psychologischen Thriller verfilmt, der sich nicht an die Regeln des Genre hält. Entstanden ist ein emotional komplexer Film, der auf Stimmung setzt.

Ein Mädchen zieht zu seinen Grosseltern, weil es beide Eltern verloren hat. Es freundet sich mit dem kranken Jungen im einsam gelegenen Nachbarhaus auf der anderen Bachseite an. Der Junge hat offenbar sein ganzes Leben in dem Haus verbracht – ohne Freunde, im Bett und im Rollstuhl. Abgesehen davon wirken seine Eltern überraschend abweisend.

Genrekino hat oft einen Kreuzworträtsel-Effekt: Man hält sich an die Regeln und füllt die Kästchen aus. John McNaughton macht keine Kreuzworträtsel.

Mit «Henry – Portrait of a Serial Killer» hat er 1986 ein Genre begründet. Mit «Mad Dog and Glory» (1993) hat er zwei Genres zusammengeführt, die Crime-Scene-Investigation und die Gangster-Komödie. Mit «Wild Things» hat er 1998 schliesslich eine Art Sex-Krimi-Rubiks-Cube gebastelt, der in seiner frechen Konstruiertheit noch immer unübertroffen ist.

Eine intime Kellergeschichte

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John McNaughton: «Wer in den Keller geht, begibt sich ins Reich des Unbewussten»
aus Kultur kompakt vom 10.07.2014.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 41 Sekunden.

Dieses Mal erzählt er eine intimere Geschichte. Eine Kindergeschichte eigentlich. Sie lotet moralische Grenzen aus, die es noch gar nicht so lange gibt. Man nähme dem Film einen Teil seiner Spannung, würde man mehr darüber verraten. Aber klar ist, dass McNaughton diesmal durchaus mit den Genre-Regeln spielt, auch mit den Bildern.

Wenn das Mädchen auf dem Dachboden die Baseballhandschuhe seines Vaters findet, ist das ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit. Eine positive Entdeckung, ein erfreulicher Teil der Vergangenheit. Dachböden sind so im Genrekino. Der Keller dagegen, ist eine andere Geschichte.

«NIFFF»

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Das «Neuchâtel International Fantastic Film Festival» («NIFFF») zeigt vom 4. bis 12. Juli fantastische Filme jenseits des Alltags. Asiatisches Kino sowie Werke mit aussergewöhnlichen digitalen Ansätzen bilden zwei zusätzliche Schwerpunkte.

Diese Geschichte wird in «The Harvest» erzählt. Allerdings ist es die Kellergeschichte des anderen Hauses. Und da treffen sich eben die bekannten Geschichten mit den Neuen. Fehlende Eltern beim Mädchen, eine erstaunlich kalte, ja bösartige Mutter beim Jungen: Märchenmotive, realistisch umgesetzt und dann im letzten Filmdrittel sehr knapp und effektiv abgehandelt.

Der einstige «Easy Rider» als Opa

«The Harvest» baut über lange Zeit Stimmung auf. Dabei setzt er auch auf die Rollenvergangenheit seiner Schauspieler.

Michael Shannon bringt alle seine Wahnsinnsrollen mit und setzt sich mit Eleganz darüber hinweg. Samantha Morton spielt dermassen klar gegen ihr Image, dass sie hin und wieder fast mechanisch wirkt und damit wirklich sehr befremdend.

Peter Fonda, der liebevolle Grossvater, der einfach nicht an seine eigensinnige Enkelin herankommt, mag eine Chiffre bleiben, bekommt aber in zwei, drei Szenen gehöriges Rührpotential. Etwa, als er das Mädchen nach dem Dachbodenfund der Baseballhandschuhe fragt, ob sie mit ihm ein paar Bälle werfen möge – und natürlich ohne Umschweife einen Korb kassiert. Den einstigen «Easy Rider» als enttäuschten Opa zu sehen, geht an die Nieren.

Kein Katz- und Maus-Spiel

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John McNaughton: «Wenn man die Erwartungen des Publikums auf den Kopf stellt, wacht es auf»
aus Kultur kompakt vom 10.07.2014.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 40 Sekunden.

«The Harvest» hat am Filmfest in München ein paar eher harsche Kritiken eingefangen. Die sind allerdings nur bedingt nachvollziehbar.

Dieser psychologische Thriller hat einen Plot wie ein Theaterstück. Gerade darum funktionert er sehr filmisch. McNaughton setzt auf Stimmung und vertraut zu Recht darauf, dass die Genre-Elemente dabei helfen. Aber zwingend sind sie nicht. Auf das Katz- und Maus-Spiel, welches die Horrorfilm-Formel fordern würde, verzichtet er fast ganz. Ein weiterer Pluspunkt.

Im übrigen fährt McNaughton mit mehreren Perspektiven: dem Blick des Mädchens, des Jungen und immer wieder auch mit der Perspektive der ambivalenten Figur von Michael Shannon. Das erzeugt eine emotionale Komplexität, die ebenfalls über die Genremechanik hinausgeht.

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