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Vier Kinder mit dunkler Hautfarbe gehen im Sommer auf einer Dorfstrasse in der Schweiz
Legende: In Oberwil-Lieli regt sich Widerstand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen - Szene aus Willkommen in der Schweiz. Filmcoopi

Doku über Oberwil-Lieli Ein Film wie ein gut schweizerischer Kompromiss

2015 verkündete Andreas Glarner, Gemeindeammann der kleinen Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli, man wolle lieber 290'000 Franken bezahlen als zehn Flüchtlinge im Dorf aufnehmen. Die Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger verfolgte den Fall. Entstanden ist der Film «Willkommen in der Schweiz».

Selbst in internationalen Medien wurde 2015 berichtet über das Dorf Oberwil-Lieli und den SVP-Gemeindepräsidenten Andreas Glarner. Glarner probte den Aufstand gegen die kantonale Zuweisung von zehn Flüchtlingen für das Dorf. Lieber wollte er aus der Gemeindekasse 290'000 Schweizer Franken bezahlen.

Glarner posiert neben einem dunkelhäutigen Mann für einen Fotografen.
Legende: Die Flüchtlingsdebatte rückt Oberwil-Lieli und Andreas Glarner in den Blick der Öffentlichkeit. Filmcoopi

Zu Besuch in Oberwil-Lieli

Die Schweizer Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger, (bekannt unter anderen für «Yalom's Cure» ) klopfte in Oberwil-Lieli an. Sie wollte ein Filmprojekt über die Geschichte machen. Der streitbare Gemeindeammann Glarner, heute Nationalrat und SVP-Parteibeauftragter für Flüchtlingsfragen, sagte gern zu.

Als Antagonistin Glarners tritt im Film die Studentin Johanna Gündel auf. Sie war die Sprecherin der dörflichen Initiative gegen den Vorstoss Glarners. Ebenfalls zu sehen ist die damalige grüne Regierungsrätin Susanne Hochuli, die bei sich selber eine geflüchtete Mutter mit ihren zwei Töchtern beherbergt.

Ein Chor als Kommentator

Der Film beginnt mit einem Chor – und ist fortan auch mit Choreinlagen gegliedert. Das ist an sich ein hübscher Einfall: der Chor, der die kulturelle Vielfalt sprichwörtlich besingt – einmal erklingt ein iranisches Volkslied, ein nächstes Mal «Luegit vo Bärg und Tal» – die Gesichter der Singenden zeugen von unterschiedlicher kultureller und geographischer Herkunft.

Der Chor als Kommentator: das lässt an eine antike Tragödie denken. Da der Film ansonsten wenig mit griechischem Theater zu tun hat, stehen diese Choreinlagen irgendwie seltsam unpassend zum restlichen Film.

Der Film als Kompromiss

Wenn der Film keine antike Tragödie ist, was ist der dann? Wohl am ehesten ein gut schweizerischer Kompromiss.

Sabine Gisiger ist aufgebrochen, Fragen zu stellen, viele Fragen. Sie hakt nach bei den Schlagwortsätzen des smarten SVP-Politikers, zwingt ihn, diese weiter auszuführen. Wenn er etwa davon spricht, der Schweiz drohe die «Moslemisierung», will Sabine Gisiger genauer wissen, wie, wann und warum.

Eine junge Frau steht mit einem Mikrofon bei einer Versammlung zwischen sitzenden Menschen.
Legende: Die Studentin Johanna Gündel bekämpft Glarners Vorhaben. Filmcoopi

Glarner bekommt ebenso viel Platz, sich für seine Idee stark zu machen wie die Gegnerin der Idee, Johanna Gündel. Die junge Studentin hat im Dorf Gleichgesinnte gesucht und kämpft fortan gegen die Idee der «Ersatzzahlungen».

Christliche Argumente auf beiden Seiten

Interessant wird dieses Duell da, wo sich beide eigentlich auf das Gleiche berufen: auf christliche Werte, aber diese komplett anders einsetzen.

Glarner verspottet gern mit Lukas 23,34 «Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun» die politischen Gegnerinnen und sagt in einem Interview, man müsse durch Grenzschliessung verhindern, dass Christen von Muslimen getötet würden. Johanna Gündel beruft sich auf den barmherzigen Samariter und die Nächstenliebe. Es gelte zu helfen, «weil es das Richtige ist».

Wie ein Kompromiss entsteht

Der Film zeichnet performativ und einleuchtend nach, wie so ein gut schweizerischer Kompromiss zustande kommt.

Er zeigt wie extreme Meinungen, krasse Schlagworte formuliert werden, Fronten sich bilden und wie – mit vielen Podien, Diskussionen und den politischen Mitteln von Abstimmungen, Referenden, Motionen – schliesslich ein Kompromiss gefunden wird, mit dem alle leben können. Zumindest wir Schweizerinnen und Schweizer.

SRF-Koproduktion

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Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) hat diesen Film koproduziert .

Ein stimmiger Zugang

Auch der Film «Willkommen in der Schweiz» selber ist ein Kompromiss, bezieht keine klare Stellung, ist weder frech, böse noch besonders lustig. Aber er berichtet sehr differenziert, stellt alle wichtigen Fragen, hört alle Meinungen an und trägt zudem historische Archivaufnahmen zusammen.

Die Haltung der Filmemacherin zum Thema ist spürbar, aber immer auch gezähmt. «Willkommen in der Schweiz» dokumentiert sehr kompromissbereit den Kompromiss. Und ist genau deswegen ein stimmiger Zugang zum Thema.

Kinostart: 19.10.2017

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 19.10.2017, 06:50 Uhr.

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