Zum Schluss eine Offenbarung: Christoph Schlingensief wollte Leben. Dabei hatte sich dieser Künstler verzweifelt am Leben abgearbeitet. Er weint. Sucht nach Erklärungen für seine Krebserkrankung, die ihn schliesslich besiegt. Die Szene ist so intim wie erleuchtend.
Mit 49 Jahren stirbt Christoph Schlingensief 2010, einer der lautesten Künstler seiner Zeit, verstummt für immer. Der Film «Christoph Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien» von Bettina Böhler lässt den Filme- und Theatermacher noch einmal zu Wort kommen. Ohne zusätzlichen Kommentar. Schlingensief erklärt sich selbst.
Sympathie für einen Getriebenen
Der Film nähert sich dem Ausnahmekünstler bedacht und sorgfältig. Selbst wer kein Fan Schlingensiefs war und seine haarsträubenden Aktionen, Filme und Theaterstücke nicht kennt oder nicht mag – nach Böhlers Film fällt es schwer, keine Sympathien für diesen Getriebenen zu hegen.
Da sind diese sehr persönlichen Familienfilme. Schlingensief als lieblicher kleiner Junge. Blond, hübsch, gefällig in jeder Szene. Schlingensief gefällig? Die Täuschung konterkariert er sogleich: «Meine Eltern wollten sechs Kinder. Ich liess mir neun Jahre Zeit, bis ich kam und nach mir kam nichts mehr. Da war ich eben sechs Kinder.»
Sechs Seelen in einer Brust
Ein Kind, sechs Seelen in der Brust: So muss er sich gefühlt haben. Eine Bürde, zu schwer für einen allein. So zumindest interpretiert es Schlingensief selbst, als er Gründe für seine tödliche Krankheit sucht.
Und da sind – natürlich – die vielen Skandale. Skandal auf der Documenta! Skandal in Bayreuth! Skandal am Zürcher Schauspielhaus! Echte Neonazis spielen «Hamlet», und dann will Schlingensief auch noch die SVP verbieten!
«Tötet Helmut Kohl!»
Der Film dokumentiert Schlingensiefs Arbeit, von der sich so viele provoziert fühlten. «Tötet Helmut Kohl!» forderte er einst in Kassel öffentlich und liess die Kanzlerpuppe mit viel Tamtam enthaupten.
Die lautstarke Empörung entlarvt Böhlers Film zeitweise als platte Scheinheiligkeit. Schlingensief war ein Bestseller im Kulturbetrieb. Etablierte Institutionen buchten ihn. Überspannte er dann den Bogen doch wieder, folgte distinguierte Distanzierung.
Hinschauen und zum Leben erwecken
Was wollte Schlingensief? «Provokation!» ist die am meisten genannte Antwort. Regisseurin Böhler vermittelt ein vielschichtigeres Bild: Christoph Schlingensief weigerte sich, wegzuschauen. Und zwang sein Publikum mit allen möglichen Mitteln, ebenfalls hinsehen zu müssen. Die Nazi-Vergangenheit Deutschlands, die Ausgrenzung von Minderheiten, die Kirche, und immer wieder er selbst. Hinschauen, draufhauen, zum Leben erwecken.
Bereits gezeichnet von seiner Krebserkrankung sagt Schlingensief zum Ende des Films: «Ich trage eine Riesenverantwortung, dass ich überhaupt hier sein darf.» Er war es nur 49 Jahre lang.