Das 44. Göteborger Filmfestival wurde am Wochenende traditionsgemäss im grössten Kinosaal der westschwedischen Hafenstadt Draken eröffnet. Anwesend war eine einzige Kinogängerin. Sie konnte unter über 700 roten Plüschkinositzen auswählen.
Auf dem vorläufigen Höhepunkt der globalen Coronapandemie mit Lockdowns, Shutdowns, geschlossenen Grenzen und verbotenen Zusammenkünften, geht das grösste Filmfestival Nordeuropas neue Wege. «Mit unserem Konzept isoliertes Kino wollen wir ausforschen, was es heisst, Filme ganz alleine zu geniessen», betont der Intendant des Festivals, Jonas Holmberg.
Die Auserwählte: eine Krankenschwester
Zu den wenigen Glücklichen gehört die Schwedin Lisa Enroth. Unter über 12'000 Kandidatinnen und Kandidaten wurde sie ausgewählt, zehn Tage alleine auf einer einsamen Insel in der stürmischen Nordsee zu verbringen: «Ich bin die Auserwählte, die sich nun hier alle Filmpremieren dieses Festivals anschauen darf, mutterseelenallein», erklärte sie glücklich im ersten der täglichen Videoladebüchereinträge von der kleinen Felseninsel Hamneskär.
Die Notfallkrankenschwester aus Skövde nordöstlich von Göteborg stand in den letzten Monaten wegen der Coronapandemie im Dauereinsatz in einem Spital: «Ich freue mich darauf, für einmal keine Angst haben zu müssen, jemanden anzustecken», erklärte die 41-Jährige vor der Abfahrt auf die Insel.
In der alten Stube des Leuchtturmwärters ist für Lisa Enroth ein Minikinosaal eingerichtet worden, es sind genügend Lebensmittel für eine Woche vorhanden. Ihre einzigen Aufgaben sind: Filme schauen und ein täglicher Videobericht.
Alleine mit Herzschmerz
Dabei fiel ihr das Alleinsein schon am zweiten Tag auf der einsamen Leuchtturminsel gar nicht mehr so leicht. «Gestern Abend schaute ich mir Undine an», berichtete sie. Der deutsch-französische Spielfilm von Christian Petzold mit Paula Beer und Franz Rogowski in den Hauptrollen orientiert sich am Mythos einer unheilvollen Wasserfrau. «Da war soviel Herzschmerz in diesem Film, dass ich mich ganz plötzlich so sehr nach meinen Liebsten zu sehnen begann und mir viele Umarmungen wünschte», gab Lisa Enroth seufzend zu Protokoll.
Konzept stösst auf Interesse
In der Öffentlichkeit hat das Göteborger Filmfestival, mit dem fast garantiert Corona-sicheren Zuschauerkonzept des isolierten Kinos, den Nerv der Zeit getroffen: Als Lisa Enroth am Samstagmorgen mit einem Schnellboot den Göteborger Hafen in Richtung Leuchtturminsel verliess, waren Kamerateams von CNN, Al Jazeera und vielen nordischen und europäischen zugegen.
Zahlreiche Göteborger Hotels bieten in diesen Tagen «einsame Filmfestivalpakete» an: zehn Tage lang einsam oder zu zweit in einem Hotelzimmer mit Grossbildschirm und Mahlzeitservice vor die Zimmertür. Wer sich dies nicht leisten kann oder mag, kann innerhalb Schwedens – oder mit einem schwedischen VPN-Internetzugang – die gut 70 Filme , die in diesem Jahr gezeigt werden, auch von zu Hause schauen. Der Festivalpass ist dabei schon für weniger als dreissig Franken zu haben.