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Filmfestival Locarno «Durak – The Fool»: Anstand und Gerechtigkeit

Mitten in einer kleinen, korrupten russischen Stadt setzt sich Klempner Nikitin für eine rechtschaffene Welt ein. Die meisten in seinem Umfeld haben sich längst der sozialdarwinistischen Realität hingegeben – auf Beistand ist kein Verlass. Eine dramatische Geschichte mit überraschendem Ende.

Dass sein Film von Dostojewskis «Der Idiot» inspiriert ist, davon sagt Regisseur Yuriy Bykov in den Unterlagen zum Film kein Wort. Und doch scheint es ziemlich offensichtlich, dass der aufrechte Klempner Dima Nikitin ein moralischer Verwandter von Dostojewskis Lew Myschkin ist.

Bei Yuriy Bykov wird die Erzählung aber sehr zeitgenössisch, sehr dramatisch und sehr pessimistisch: Der Korruption des politischen Apparates ist der anständige Mann nicht gewachsen. Nicht einmal seine Frau und seine Mutter verstehen seine aufrechte Gesinnung in einer Stadt, in der sich jeder nimmt, was er kann.

Kaputte Leitungen am Tag, Fernstudium nachts

Ein Mann wird von einem Bildschirm angeleuchtet. Im Hintergrund eine Frau und ein Junge.
Legende: Dima Nikitin (Artem Bystrov) ist alleine mit seiner Gesinnung. Filmfestival Locarno

Nikitin ist mit seiner Equipe zuständig für die Reparatur der Leitungen in einem zerfallenden Wohnblock aus der Breschnew-Zeit. Nachts bildet er sich im Fernstudium zum Ingenieur weiter. Darum entdeckt er auch nach einem scheinbar einfachen Wasserrohrbruch, dass das ganze Haus von einem Riss durchzogen ist und einzustürzen droht. Mit seinen ganzen rund 800 Sozialfällen drin.

Sein zuständiger Vorgesetzter ist seit Tagen auf Sauftour. Darum geht Nikitin mitten in der Nacht persönlich zur Geburtstagsfeier der Bürgermeisterin und warnt diese und ihre samt und sonders anwesenden und betrunkenen Departementsvorsteher. Keine gute Idee, seine Mutter und seine Frau hatten es schon immer gewusst.

Verdecken, verstecken, vertuschen

Der korrupte Machtapparat interessiert sich nur für die Verdeckung der eigenen Versäumnisse, das Verstecken der zweckentfremdeten Geldflüsse und das Vertuschen der jahrzehntelangen Versäumnisse beim Unterhalt der Bauten. Sündenböcke müssen her. Und überhaupt ist ja nicht sicher, dass der Block wirklich innerhalb de nächsten 24 Stunden zusammenbricht, wie es Nikitin berechnet hatte.

Yuriy Bykov beginnt seinen Film mit der Zeichnung der versoffenen und heruntergekommenen Menschen im Block und geht dann zu Nikitin und seiner Familie. Dort beharren der Mann und sein Vater auf Anstand und Gerechtigkeit, während die Frauen ihnen vorwerfen, Prinzipien und Moral über das Wohlergehen der Familie zu stellen.

Dabei bewegt sich die Inszenierung mit dramatischer Schwere stets an der Grenze zur satirischen Überzeichnung, vor allem bei der Charakterisierung der Bürgermeisterin und ihrer Entourage. Aber nie so deftig, dass man das vage Gefühl verliert, die Wirklich sei wohl ziemlich genau so, wie Bykov sie schildert.

Kapitulieren oder nicht?

«Durak» ist ein spannender Film, weil die Unausweichlichkeit der Entwicklung nie in Frage gestellt wird, bis zum Schluss. Das korrupte System trifft nicht auf wehrlose Bürger. Es hat diese längst assimiliert.

Nikitin und sein Vater sind tatsächlich die einzigen durch und durch anständigen Menschen im Film, während selbst ihre Frauen vor der sozialdarwinistischen Realität kapituliert haben und das eigene sowie das Wohl ihrer Kinder vor das der restlichen Gesellschaft gestellt sehen wollen.

Kein billiges Finale

Das zieht der Film konsequent durch, bis zum unausweichlichen, bitteren Ende. Und genau dort verweigert Bykov dann auch noch jene Konsequenz, welche der Geschichte ein billig befriedigendes dramatisches Finale geben könnte.

Wäre Durak ein Porno, müsste man sagen, Bykov verzichtet auf den «Money Shot». Das peppt sein fettes Drama auf zum sozialrealistischen Rockstück.

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