Seit der Brite Mike Leigh 1996 für «Secrets and Lies» die Goldene Palme in Cannes gewann und sechs Jahre darauf für «Vera Drake» den Goldenen Löwen von Venedig, ist er eine feste Grösse im internationalen Filmschaffen. Dabei sind seine Film oft äusserlich unspektakulär und naturalistisch gehalten – gerne preist man ihn als einen verschmitzten Humanisten mit einem grossen Herz für Aussenseiter und für vermeintlich einfach gestrickte Menschen, deren Tiefen er auslotet.
Menschliche Wärme, schwarzer Humor
Mike Leigh ist aber auch ein Cineast der menschlichen Abgründe: Durch sein Werk zieht sich bei aller menschlichen Wärme auch ein nicht zu verachtender schwarzer Humor, der bisweilen gar absurde und bizarre Züge annimmt. Unsere Auswahl an fünf Filmen widmet sich diesem komplexen Nebeneinander von psychologischer Finesse und hinterhältigem Schalk.
1. «Bleak Moments» (1971)
Mike Leighs erster Spielfilm basiert auf einem Stück, das er mit einer Theatertruppe erarbeitet hatte und mit Kleinstbudget für die Leinwand adaptierte. Die gezeigten Südlondoner Protagonisten sprechen langsam, unbeholfen und sind schlecht im Ausdrücken ihrer Gefühle – weshalb man sie sofort ins Herz schliesst. So fragt ein Mann etwa beim verklemmten Flirtversuch: «Which do you find easier – watching, television or radio?» Und sie, überlegend, antwortet todernst: «I find it easier watching the radio.»
2. «Nuts in May» (1975)
Die Dialoge dieses BBC-Fernsehfilms geniessen heute in Grossbritannien Kultstatus. Ein seltsames Paar – sie ist ausgeprochen kindlich, er hingegen abnormal herrisch und pingelig – fühlt sich beim Campingurlaub von einem Zeltnachbarn gestört und tritt einen Kleinkrieg in der wilden Natur vom Zaun. In seinen bizarrsten Momenten wirkt «Nuts in May» wie ein ausgedehnter Monty-Python-Sketch. Und auch die schamlose Horrorkomödie «Sightseers» von Ben Wheatley (2012) bezieht sich ausführlich auf den Film.
3. «Naked» (1993)
Mit diesem düsteren und gleichzeitig aberwitzigen Film wurde Mike Leigh weit über die Grenzen Grossbritanniens bekannt. «Naked» war rauher als Leighs bisherige Arbeiten und bedeutete vor allem den Durchbruch für den Schauspieler David Thewlis, der komplett in seiner Rolle aufging: ein kaputter Underdog, schwankend zwischen sadistischen und selbstzerstörerischen Ausbrüchen, unerträglich grob im Verhalten, aber gleichzeitig charmant und blitzgescheit. Der Film dürfte Leighs giftigste Antwort auf die Auswüchse des Thatcherismus geblieben sein.
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4. «Topsy-Turvy» (1999)
Ein Kostümfilm von über zweieinhalb Stunden Länge und mit etlichen Musiknummern – ein Novum in der Filmografie von Mike Leigh. Die vergnügliche Geschichte rund um das Operettenduo Gilbert and Sullivan spielte ihre Produktionskosten zwar nicht ein, gewann aber zwei Oscars für bestes Kostümdesign und bestes Make-up. Leigh warf in diesem Film einen unbeschönigten Blick auf das viktorianische Zeitalter und fing zudem den heiklen Ablauf von künstlerischen Prozessen ein, was er auch in «Mr. Turner» (2014) wieder tun sollte.
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5. «Happy-go-Lucky» (2008)
Die Schauspielerin Sally Hawkins wird bis heute mit ihrer Rolle der quirligen Primarlehrerin Poppy in Verbindung gebracht – einmal mehr war es Mike Leigh gelungen, eine starke Figur mit der absolut idealen Darstellerin zu besetzen. Doch die lachende Poppy auf dem Poster verschweigt, dass sie mit ihrer Nonstop-Heiterkeit im Film ihre Mitmenschen fast in den Wahnsinn treibt, bis sie gar körperlich angegriffen wird. Leigh amüsiert sich darüber, dass wir alle manchmal einem allzu gutgelaunten Menschen eine runterhauen möchten.
Trailer zum «Happy-go-Lucky» (YouTube), Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen