Schon mal im Kino die Schnitte gezählt? Es sind ganz schön viele: Ein zweistündiger Film besteht heutzutage aus 600 bis 1000 Einstellungen. Tendenz steigend. Entgegen diesem Trend ist in «1917» kein einziger Schnitt zu sehen.
Für Regisseur Sam Mendes, Kameramann Roger Deakins und die Schauspieler war der Dreh ein Kampf, der alle viel Zeit und Nerven kostete. Ein kinematografischer Kraftakt, der sich allerdings gelohnt hat, wie 10 Oscarnominierungen beweisen.
«1917» besteht aus episch langen Einstellungen, die völlig nahtlos miteinander verbunden werden mussten. Weil nur so beim Zuschauen der Eindruck entsteht, einer Geschichte in Echtzeit zu folgen.
Einfache Handlung mit starker Sogwirkung
Das Skript – das erste von Regisseur Sam Mendes überhaupt – dreht sich um zwei englische Fusssoldaten. Wir befinden uns im Jahr 1917, auf französischem Territorium.
Die beiden Briten sind als Boten einer geheimen Nachricht unterwegs. Sie sollen eine 1600 Mann starke Kompanie vor dem Angriff warnen. Weil diese sonst den Deutschen, die einen Hinterhalt geplant haben, ins offene Messer laufen würde.
Raus aus dem Schützengraben
Eigentlich eine recht simple Story. Raffiniert daran ist nur die Idee, die Helden grosse Distanzen überwinden zu lassen. Mendes befreit seine Hauptfiguren damit von den strukturellen Fesseln des Genres.
Filme über den Ersten Weltkrieg wirken oft statisch, weil sie sich in Schützengräben abspielen. «1917» zeigt dagegen ganze Landstriche: blühende Wiesen genauso wie zerstörte Dörfer.
In unserem Interview unterstrich Mendes diesen Umstand mit folgender, richtigen Erkenntnis: «1917 ist wohl der Film über den Ersten Weltkrieg, der sich am meisten bewegt.»
Alte Tricks, neue Technik
Kamera und Schauspieler sind zwei Stunden lang in Bewegung in dieser zutiefst bewegenden Kriegsgeschichte. Fast nonstop. Trotzdem wirkt ihr eindrücklich choreografiertes Zusammenspiel nie künstlich.
Nur selten zischt etwas an der Linse vorbei, um uns für Sekundenbruchteile die Sicht zu trüben. Was es dem Regisseur ermöglicht, einen Schnitt unterhalb unserer Wahrnehmungsgrenze zu platzieren.
Diesen Trick hatte Alfred Hitchcock schon 1948 für sein Kammerspiel «Rope» verwendet. Oder zuletzt Alejandro González Iñárritu bei der Montage von «Birdman», dem grossen Gewinnerfilm der Oscarverleihung 2015. Wie Iñárritu profitiert Mendes von der digitalen Postproduktion, die fast sämtliche Schnittspuren komplett verschwinden lässt.
Ein Schuss, ein Treffer?
Von der Machart her noch eindrücklicher als «1917» sind nur die wenigen Filme, die tatsächlich in einem Take gedreht wurden. An erster Stelle wäre da Sebastian Schippers Berlinale-Hit «Victoria» (2015) zu nennen. Oder aus Schweizer Perspektive: Dani Levys Tatort «Die Musik stirbt zuletzt» (2018).
Auf einen Trumpf konnten diese Filme allerdings nicht zurückgreifen: Kameralegende Roger Deakins. Dank ihm wirkt bei «1917» alles wie aus einem Guss. Das ist auch der Academy nicht entgangen. Darum hat sie den Briten für den Oscar nominiert – bereits zum 15. Mal.
Anders als auf dem Set, lässt Deakins’ Trefferquote bei den Oscars allerdings zu wünschen übrig. Bisher steht erst ein Goldmännchen im Trophäenschrank des 70-Jährigen.
Kinostart: 16.1.2020